Das Glück der Unvollkommenheit

Parabel

Ruth Bauer war vernarrt in den Charme der Wochen- und Trödelmärkte. Das hatte etwas mit der Art der Abwicklung eines Kaufes zu tun, den Gesprächen mit den Händlern, dem Feilschen, dem sinnlichen Erleben der angebotenen Waren. Außerdem traf sie oft vertraute Menschen, mit denen sie dann ein wenig plauderte oder manchmal auch spontan einen Kaffee trinken ging. Da sie fast ihr ganzes Leben lang ohne Unterbrechungen gearbeitet hatte, sonst genügsam lebte und auch keine Fernreisen oder dergleichen unternahm, erlaubte ihre Rente regelmäßige Rücklagen für die kleinen Extravaganzen, die sich bewusst gönnte. Ruth wertschätzte alte Dinge und freute sich wie Bolle, wenn sie ausgedienten, ungeliebten Möbeln das Gnadenbrot in ihrer, gottlob großzügig geschnittenen, Berliner Altbauwohnung schenken konnte. Bei der Eingliederung und Dekoration der antiken Funde bewies sie ein geschmackvolles Händchen, so dass in der Willkür einer stilbunten Zusammenstellung dennoch eine erkennbare Struktur entstand. Ihr Geheimnis: Weniger ist mehr. Das war ihr Lebensmotto für alle dinglichen Angelegenheiten, seit sie zurückdenken konnte. Gelernt, weil sie es musste und beibehalten, weil sie es wollte. Kam sie körperlich erschöpft, aber mental gut gelaunt vom Stöbern auf einem der zahlreichen Flohmärkte der Hauptstadt zurück, verlor sie sich in ihrer Küche, wo sie ihrer zweiten Leidenschaft nachging, dem Kochen. 

Ruth hatte ausgiebig geliebt in ihrem Leben, denn für die Liebe galt ihr Lebensmotto selbstverständlich nicht, und obwohl sie feste Bindungen letztlich immer gescheut hatte, blieben ihre Liebhaber ihr über Jahre und Jahrzehnte freundschaftlich auf´s Engste verbunden, ja, selbst die neuen Partnerinnen an der Seite ihrer Exbeziehungen bereicherten inzwischen Ruths großen Freundeskreis, der in wechselnder Konstellation bei ihr ein und aus ging. Immer köchelte ein schlichtes Gericht, mit wenigen, aber dafür liebevoll ausgewählten Zutaten – hier war weniger wieder mehr – auf ihrem Herd. Betrat ein Gast ihre Wohnung, so lief ihm schon beim Mantelablegen im Flur das Wasser im Mund zusammen, weil er vom Duft frisch gebackenen Brots und Kompositionen aromatischer Kräuter und Gewürze so herzlich empfangen wurde. 

Nicht nur architektonischer Mittelpunkt der drei in Reihe angeordneten, hohen Räume, war das Esszimmer – ein Durchgangszimmer zu den beiden anderen Räumen und der Küche direkt gegenüber gelegen. Herzstück darin war ein großer Tisch, ein seltener und wertvoller, originaler Shaker Dining Table, den ihr eine alte Liebe – sie hatten das Möbel einst gemeinsam in Holland ersteigert – vererbt hatte. Ruth hatte ein Faible für die schlichte Ästhetik des Tischlerhandwerks der Shaker, den Angehörigen der gleichnamigen amerikanischen Sekte. Um diesen Tisch, der ein wenig Ähnlichkeit mit einem überdimensionierten Schulschreibtisch aufwies, scharten sich wie Kinder um ihre Mutter sieben antike Stühle anderer Designs und Epochen, nur geeint in der Art ihrer, ausschließlich von Hand ihrer Schöpfer gefertigten, Herstellung. 

An einem regnerischen Wochenende streifte Ruth wieder über einen Antikmarkt ihres Kiez´, etwas lustlos und mit in letzter Zeit wachsendem Unmut darüber, dass kaum noch wirklich brauchbare Antiquitäten angeboten wurden. Sie verharrte, einem unbestimmten Impuls nachgebend, an einem Stand, auf dem sich bestoßenes Zwiebelmustergeschirr und allerlei Kinkerlitzchen in buntem Durcheinander auf einem Tapeziertisch türmten. Dahinter saß der junge Besitzer des Stands, rauchte eine Zigarette und blätterte gelangweilt, ohne sich um mögliche Kundschaft zu scheren, in einem zerfledderten »Lustigen Taschenbuch«. Ruth schaute ihm gedankenverloren zu und erst im Moment des Weitergehens, fiel ihr der Stuhl, auf dem der junge Mann sich fläzte, ins Auge und sie schluckte. Wenn sie sich nicht irrte, saß er tatsächlich auf einem antiken Shaker-Esszimmerstuhl! Als handele es sich um einen verlorenen Freund, hatte sie im Moment des Erkennens ihn schon gedanklich im Kreis ihrer vorhanden Stühle begrüßt, der letzte, der achte, denn mehr würden beim besten Willen nicht an den Tisch passen. Sie durfte sich das Möbel genauer ansehen und die folgenden Verhandlungen gingen ein Weilchen hin und her, denn Ruth wollte zwar einen für sich selber guten Preis aushandeln, hatte aber auch den Eindruck, dass sich der Verkäufer des kleinen Schatzes nicht wirklich bewusst war und wollte ihn andererseits auch nicht übervorteilen. Sie wurden sich einig und gegen einen angemessenen Aufpreis versprach ihr Frank, so stellte er sich nun, da er trotz der miesen Witterung noch ein Geschäft machen konnte, freundlich vor, ihr den Stuhl noch am selben Abend nach Hause zu liefern.

Pünktlich zur verabredeten Zeit klingelte es. Edith hatte schon Platz am Tisch gemacht, und Frank schleppte mit tatkräftiger Hilfe eines Freundes den Stuhl in Ruths Parterrewohnung. Er passte zu und an den Tisch wie der achte Arm zum Oktopus. Frank und sein Kumpel kamen noch in den Genuss einer Schale scharfer Tomatensuppe mit selbstgebackenem türkischen Ekmek, das ausgehandelte Restgeld wechselte den Besitzer und Ruth brachte noch ein paar Details über das Vorleben des Stuhls in Erfahrung. Wieder alleine, genoss sie die unerwartete Vollkommenheit des Esszimmer-Ensembles und verbrachte den restlichen Abend leise summend mit der liebevoll sanften Reinigung und dem Polieren des warmroten Kirschholzes des Neuankömmlings. Trotz seiner reduzierten, aber dafür um so ungewöhnlicheren Gestaltung, war der Dining-Chair äußerst bequem, aber er kippelte etwas und als Ruth genauer hinsah, erkannte sie, dass eines der beiden Vorderbeine an der Unterseite leicht abgesplittert und dadurch verkürzt war. Am folgenden Tag rief sie Horst, einen alten Freund aus Kindertagen, an, der in seiner Freizeit mit viel Geschick und Ahnung Möbel restaurierte und er versprach im Laufe der übernächsten Woche zu kommen: »Nächste Woche bin ich bei meiner Tochter in Kassel, aber danach kann ich es gut einrichten. Vielleicht muss ich nur etwas unterfüttern oder am anderen Bein etwas fortnehmen. Na, ich guck´s mir auf jeden Fall an!«, sagte er.

Später, zum sonntäglichen Mittagessen hatte Ruth, es war schon Tradition geworden, zahlreiche Gäste am reich gedeckten Tisch versammelt und alle genossen die gesellige Nähe, die fröhliche Laune, die tiefgründigen Gespräche und natürlich Ruths Delikatessen. Sie selbst saß auf ihrer neuen Errungenschaft, um keinem ihrer Gäste das Schwanken zumuten zu müssen. Ohne sich dessen bewusst zu werden, begann sie jedoch während des Essens und der Gespräche sanft hin und her zu schaukeln. Das leichte Wiegen schien eine sonderbar entspannende und beruhigende Wirkung zu entfalten. Er wurde von da an ihr Lieblingsstuhl, auf dem sie sogar saß, wenn sie mal, was selten vorkam, alleine etwas aß oder am Tisch in einem Bildband blättern wollte.

Als ihr Bekannter wie zugesagt kam, um sich die Beschädigung anzusehen, und er über eine Lösung nachgrübelte, weil es doch wegen des Designs schwieriger als angenommen schien, sagte Ruth plötzlich: »Weißt du, Horst, eigentlich ist der Stuhl so wie er ist genau richtig! Alle meine Stühle, ja, fast alle Dinge, die ich besitze, sind nicht perfekt. Der da gegenüber hat abgewetzte Polsterstellen von den vielen Popos, der vor Kopf hat sogar ein ausgebessertes Einschussloch in der Lehne. Was ich sagen will ist, sie sind alle nicht vollkommen, aber dafür einzigartig. Dieser Stuhl hat mir erneut gezeigt, wie gut mir Entspannung bekommt und wie anpassungsfähig ich an vermeintliche Makel bin. Perfektion gibt es nur in Massenproduktionen – ich ziehe Individualität und Geschichte vor. – Setz dich doch. Darf ich dich auf Kaffee und ein Stück meines Käsekuchens einladen? Du musst mir doch unbedingt von deinem Besuch in Kassel erzählen und von deinem zuckersüßen Enkel!«


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