Moorwalzer

Halloween Schauerchen

Manche Dinge ändern sich nie. Wie der Tod. Andere verändern uns. So, wie das Leben danach.

Norach hatte die Kapuze seines Wetterumhangs hochgeschlagen und sie war ihm so weit ins Gesicht gerutscht, dass Ava seine Mimik nicht erkennen konnte. Nur ein Augenpaar lumineszierte im Schatten darunter und warf einen kalten Schimmer auf seinen gewaltigen Nasenrücken. Im Bug des Bootes kämpfte eine Petroleumlaterne gegen die Nebelfetzen, die aus den Wipfeln des Waldes herabglitten. Wie Milch flossen sie über den See. Das Licht zerstreute sich darin zu einer Kugel – einer von vielen, die wie tanzende Glühwürmchen dem gegenüberliegenden Ufer zustrebten.

Berus, das Teufelsvieh von Wachhund, hatte tief und fest geschlafen als Ava durch das Tor nach draußen geschlüpft war. Schnell war sie mit gerafftem Kleid zum Steg gehastet, an dem der Fährmann, krumm wie ein Haken auf das lange Stakholz gestützt, auf sie gewartet hatte. Am Ufer hatte reges Treiben geherrscht und Norach hatte Aushilfskräfte anfordern müssen, damit die zahlreichen Gästen, die sich in jeder letzten Oktobernacht eines Jahres auf dieses Ereignis freuten, rechtzeitig über den See kamen. Er war ein mysteriös zeitloser Alter, so, als wäre er schon als Greis auf die Welt gekommen, aber er war mit einer physischen Kraft und Zähigkeit gesegnet, die ihm niemand zugetraut hätte. Diesen Ansturm konnte er allerdings alleine unmöglich bewältigen! Jede Minute Wartezeit auf ein freies Boot würde den Ausflüglern von ihrem Aufenthalt auf der anderen Seite verloren gehen und ihre Laune auf den Nullpunkt sinken lassen.

Die feuchte Nachtluft brachte Ava zum Zittern und sie lachte leise. Fast hatte sie dieses lustige Gefühl vergessen! Erging es den anderen ähnlich? Sie horchte in den Nebel und schlang das Schultertuch ein wenig enger. Ob Dante sie erwartete? Heute hatte sie eine exquisite Überraschung für ihn vorbereitet, und sie konnte ihre Vorfreude auf sein entgeistertes Gesicht kaum bändigen. 

„Sind wir bald drüben?“, fragte sie den Alten, der stehend mit ausladenden Armbewegungen die Stocherstange erst in den flachen Grund steckte, um das schmale Boot anschließend daran entlang zu ziehen. Staken – ziehen, staken – ziehen … Antworten gab er nie. Die Dunstschleier zerrissen in zarte Flusen und schmolzen dahin. Ava blickte auf den See, dessen braunes Wasser gluckernd an die Bootswand schwappte. Aber weder die Laterne spiegelte sich darin noch das Boot selbst mit den beiden Insassen. Jetzt erkannte Ava die Silhouetten der Moorbirken und Moorkiefern am Ufer und dann die Lichtung, auf der sie Dante treffen würde. Wenig später schob sich der Bootskiel in die weiche Uferzone. Norach legte die Holzstange längs, hob die Laterne in die Höhe und half Ava aus dem Boot. Ihre Schnürstiefel sanken in den nassen Boden und der Saum ihres Kleides sog sofort das Torfbraun wie Löschpapier auf, doch Ava lachte auch darüber. 

„Danke, Norach“, sagte sie, „warte im Kahn, ich werde dieses Mal nicht lange bleiben.“ Der Alte nickte.

Darauf bedacht, nur feste Grassoden zu betreten, um nicht zu tief einzusinken, eilte Ava der Lichtung entgegen. Torfmoos und Wollgras bildeten hier einen dichten Teppich auf festerem Grund. Sie schaute zurück zum Lethesee, der das Moor vom Schattenreich im Westen trennte. Vereinzelte Lichtbälle anderer Boote verglommen in der Ferne. Das dickflüssige Wasser gurgelte beharrlich.

Ava erschrak nicht, als er plötzlich hinter ihr stand, denn sein nervöser Räuspertick hatte ihn verraten. Sie wandte sich ihm zu. Schön, er war also gekommen!

„Mein liebster Dante, wie hab´ ich dich vermisst!“ 

„Ava“. Er hauchte den Namen, den die kühle Nachtluft als Wölkchen über das Wasser trug. Ava sank in seine einladend geöffneten Arme. 

Dante vergrub sein Gesicht in ihren weichen, hochgesteckten Haaren, roch den würzigen Duft nach Erde und Stein, den er fast vergessen hatte und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. Lange hielten sich innig, wie zwei verirrte Wanderer, die sich nach langer Suche endlich wiedergefunden hatten. Der Mond beschien inzwischen die kleine Blöße im Wald, und Dante rückte galant ein Stück von Ava ab, hob ihre zierliche Hand zum Handkuss, wobei er gleichzeitig eine kleine auffordernde Verbeugung machte. Lächelnd deutete Ava einen Knicks an und nahm eine Tanzhaltung ein. Aus dem Moorwald drang, erst schüchtern, dann selbstbewusst gespielt, die Melodie einer Geige – ein Walzer – und das Paar begann sich langsam im Rhythmus zu wiegen. Anmutig und leicht wie Grashalme wogten sie auf der Stelle hin und her, während sie sich leise Liebesbezeugungen ins Ohr wisperten. Sie drehten sich mal rechts, mal links herum, einen Walzer nach dem anderen, so, wie sie es früher auf zahlreichen Bällen und Veranstaltungen getan hatten, sogar noch wenn die Musiker längst gegangen waren. Den Geigenspieler dieser Nacht sah nur Ava, weil er wie sie war, unbeseelt und ohne Substanz.

Außer in der Nacht vor Allerheiligen, wo der Schleier zur anderen Welt porös wie ein Teesieb wurde und Ava den Besuch bei ihrem Liebsten ermöglichte, waren sie getrennt. Erst wenn Dante die Welt der Lebenden hinter sich ließe, wären sie wieder vereint. Ava strauchelte, weil ihr Stiefelchen im Moor stecken geblieben war und der Absatz dabei abbrach. Der Musiker unterbrach das Stück.

„Lass uns einen Augenblick ausruhen“, sagte Dante etwas außer Atem, „dann richten wir das Malheur. Außerdem muss ich dir etwas beichten.“ Er hob sie auf seine Arme und trug sie zu einem entwurzelten Baum, auf den sie sich setzten. Ava bückte sich, um den intakten Stiefel auszuziehen. 

„O je, was willst du mir denn beichten?“ Die Frage wirkte beiläufig, aber ihre Stimme vibrierte und verriet Misstrauen. Sie holte aus und trennte den Absatz am Baumstamm mit einem einzigen Schlag von der Sohle. Eine vage Ahnung bemächtigte sich ihrer. „Sag schon, raus damit!“ Ava bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln. 

„Nun“, begann Dante, „ehrlich gesagt, ich habe eine schlechte Nachricht. Es wird dir nicht gefallen, Liebling … Ach, aber es muss gesagt werden! Heute wird es unser letzter Walzer sein, denn wir im Moor gemeinsam tanzen. Ich werde noch vor Weihnachten heiraten, und ich habe mir geschworen, meiner Frau auch in Gedanken treu zu sein. Du verstehst doch, was das bedeutet, oder?“ Er schnaufte, als hätte er eine schwere Last abgeworfen.

Diese Ankündigung schockierte Ava nicht wirklich. Schon im Jahr zuvor hatte er ihr seine Liebe zu Nora gestanden. Ausgerechnet Nora ‚Langhals‘, diese dumme Pute! Nora, die im Gegensatz zu Ava wie ein Wunder unverletzt überlebt hatte, als Dantes neuer Bentley nach dem Sommerball den Hang hinabgestürzt war. Er hatte den flotten Open Sports Tourer mit einem ordentlichen Champagnerschwips gelenkt und sich lediglich das Schlüsselbein gebrochen, aber Noras Ehemann und Ava waren hinausgeschleudert worden und dann unter die Karosserie geraten. Das immense Gewicht hatte beiden keine Gnade gewährt. Zunächst noch aus Liebe, später aus Schuldgefühl, hatte Dante ihr versprochen, weiterhin übers Jahr für diese eine vergnügliche Walzernacht auf die Moorlichtung zu kommen. Und das sollte nun vorüber sein?

„Du bist so still, Schatz, sag etwas, beschimpf mich! Bist du mir böse?“

„Hm“, begann Ava, während sie den Stiefel wieder zuschnürte, „was soll ich dazu sagen? Suchst du bei mir Absolution? Oder du willst meinen Segen? Da liegt eine Verwechslung vor, denn ich war deine Frau und bin nicht deine künftige Schwiegermutter!“

„Na, nein!“ Dante wurde sichtlich nervös. „Natürlich nicht! Aber diese schreckliche Tragödie liegt jetzt lange hinter uns. Wir, also, Nora und ich, wir wünschen uns Kinder und wir werden schließlich nicht jünger.“

„Ich durfte deinetwegen nicht älter werden.“ Bittere Galle stieg in Avas Speiseröhre. Sie erhob sich langsam und richtete ihr Kleid. Um sich die Finger zu reinigen, nestelte sie ein Spitzentüchlein aus einer Rocktasche und ließ dabei einen kleinen Gegenstand unauffällig in die Hand gleiten.

„Du verstehst sicher, wenn ich mehr dazu nicht sagen kann. Ich möchte zurück! Bitte begleite mich zum Boot, es läuft sich ohne Absätze recht unkomfortabel auf dem moorigen Untergrund.“ Sie hüstelte und führte dabei die Hand mit dem Tuch zum Mund, während sie sich mit der freien Hand bei ihm untergehakt hatte.

„Bitte, Ava, lass uns nicht im Unguten auseinandergehen! Bleib noch, ich will es erklären.“

„Es ist alles Notwendige gesagt, außer – adieu. Sag einfach adieu, und küss mich zum Abschied noch einmal wie mein Gatte.“

Dante führte sie zum Boot, das behäbig im Wasser dümpelte, und stieg hinein, um Ava über die Bordwand zu heben. Vom Schwanken wachte Norach auf, der auf der Heckbank gedöst hatte. Ava schlang zum Abschied ihre Arme um Dantes Hals und gierig suchten ihre Lippen seine. Während er sie öffnete, schob sie mit ihrer Zunge eine winzige Tablette in seinen Mund und ahnungslos erwiderte er ihre Leidenschaft, die sie in ihren Abschiedskuss legte. Doch plötzlich glitten seine Arme an ihr herunter, sein Blick richtete sich fragend in ihre Augen, dann in sein Innerstes und er sackte zusammen, wie eine Fadenpuppe, deren Spieler plötzlich die Lust verlassen hatte. Während das Boot taumelte, gluckste das Wasser noch vergnügter. 

Norach half Ava, den Sterbenden im Boot hinzulegen. Sie hockte sich neben Dantes Kopf und flüsterte: „Nicht deinetwegen habe ich jedes Jahr mit dir hier Walzer getanzt. Das Wiegen galt einzig unserem Kind, das ich unterm Herzen trug und das mit mir sterben musste. Jeder Vater sollte sein Kind wiegen dürfen.“ 

Leises Stöhnen, flankiert von giftigen Schaumbläschen, entwich Dantes Lippen. Seine Augenlider flatterten auf wie Nachtfalter, dann ruhten sie und sein Körper erschlaffte. Ava warf sich über ihn und verkroch sich für einen Moment in ihre Dunkelheit, bevor sie aus ihrem Dekolleté den mitgebrachten Obolus zog, um ihn ihrem Mann unter die Zunge zu legen. 

Norach stieß das Boot ab. Sein Schatten und das Summen der Frauenstimme verloren sich im Nebel. 


© Inhalt urheberrechtlich geschützt – H. M. Kaufmann 31.10.2022

Verfremdete Titel-Collage unter Verwendung von Bildern von Darkmoon_Art und Gordon Johnson auf Pixabay – vielen Dank!

Musik: Brahms Wiegenlied Walzer, POND5 Ireland