Nachtfall

Halloween Shorty

‚Nachts sind alle Katzen grau‘ war Ma´s Lieblingsredewendung, wenn sie zur Schummerstunde bei einem Becher Hagebuttentee ihr Klatsch- und Tratschfazit über unsere Nachbarn und Bekannten zog. Wie sie mich in diese Gespräche einbezog, ließ mich fast erwachsen fühlen, obgleich ich zu jung war, um den Sinn dieser Redewendung zu verstehen. Meine Kinderseele spürte die intuitive Menschenkenntnis der reifen Frau. Egal welches Alter wir selbst erreichen und wie alt sie tatsächlich sind, unsere Eltern bleiben für uns stets im behütenden Sinne alt. Dabei war Ma damals, als wir so innig verbunden beieinander saßen, jünger als ich im Augenblick meines Todes.

Der Vollmond der heutigen Nacht hat das Grau besiegt, es entschlossen in den Untergrund getrieben und das vertraute Tal öffnet sich meinem Blick in einem Funken sprühenden Glanz. Der Fluss mäandert einer wohlgenährten Blindschleiche gleich durch die glitzernden Auen dem Meer entgegen. Graue Katzen entdecke ich nicht, aber ich sehe Schafe, die wie verstreute Silbertaler auf einer Wiese ruhen. Am Horizont erheben sich mächtige Bergschatten vor dem sternengesprenkelten Firmament. Durch die Ebene streicht ein verschlafener, kleiner Wind, zaust das lange Gras und verführt das Uferschilf zu einer geflüsterten Unterhaltung. Eine ganz und gar verzauberte Nacht, diese Nacht der Nächte, denn ich lebe, sitze auf einem Findling und warte auf meinen Liebsten.

Plötzlich greifen von hinten kühle Hände um mein Gesicht und bedecken meine Augen. Ich erschrecke nicht, denn ich weiß, dass nur er es sein kann, und lache mein silberhelles Jungmädchenlachen, das er so liebt, als er die Hände fortnimmt und sich mir zeigt. Auch er hat das jenseitige Dämmergrau abgelegt und seine Arbeitshose und das schlichte Hemd schimmern hell wie eine Rüstung aus poliertem Edelmetall. Sanft zieht er mich zu sich hoch, um mich zu küssen. Wie sehr habe ich mich nach diesem erdigen Geschmack verzehrt!

»Wartest du schon lange?«, fragt Edgar.

»Das weiß ich nicht. Was ist lange?«

»Zwischen unserem letzten Kuss und diesem lag die Ewigkeit.«

»Dann lass uns keine Zeit mehr verlieren! Ich freue mich schon auf unsere Kahnfahrt!«

Wie albernde Kinder und ungestüm vor Lebensfreude rennen wir barfuß zum Flussufer hinunter, an dem alte Weiden mit Vorhängen aus wehenden Ästen ein hölzernes Ruderboot verbergen. Wir necken uns, bespritzen uns mit Wasser und manövrieren es lachend in die Strömung des Flusses, um im allerletzten Augenblick hineinzuspringen. Der Saum meines Kleides saugt das Wasser auf, das sich im Kiel gesammelt hat, und ich hoffe, es ist Regenwasser und stammt nicht etwa von einem Leck im Rumpf. 

Edgar legt das im Kahn liegende Paar Riemen in die Dollen, setzt sich auf die Bank und rudert es mit wenigen, kraftvollen Schlägen in die Strömung, um sich von ihr unterstützen zu lassen. Dabei taucht er die Ruderblätter sanft und nur so tief wie nötig in den Fluss, der sich dafür mit wohligem Platschen bedankt. Ich sitze auf der Heckbank und bewundere Edgars seemännisch geschulte Handgriffe, die bei ihm mühelos, fast anmutig, wirken. Viele Jahre Knochenarbeit auf einem alten Frachtsegler haben ihn gestählt. Die Ärmel seines Hemdes sind aufgekrempelt und ich betrachte das Spiel seiner Armmuskeln unter der Haut. Als mich eine Woge weltumfassender Liebe für ihn überspült, verschlägt es mir beinahe den Atem. Endlich gleitet das Boot mit natürlicher Hilfe im Strom dahin und benötigt nur hin und wieder ein paar korrigierende Schläge zur Steuerung. Edgar entspannt sich und lächelt mich an.

»Du denkst so sichtbar, Alice, was ist los?«, sagt er in die prickelnde Silberluft, die über dem Bett des Flusses liegt, und als hätte diese Nacht ein Gespür für romantische Effekte, huschen Silhouetten jagender Fledermäuse über das vollkommene Rund des opalisierenden Mondes. 

»Ich denke an nichts, Liebster, denn in mir ist nur Raum für meine Liebe zu dir.«

»Du kennst mich. So sehr ich die deinen schätze, mir selbst fehlen solch süße Worte, um mich poetisch auszudrücken, aber mir geht es wie dir. Gleichzeitig bin ich traurig, denn die Nacht verrinnt wieder einmal viel zu schnell.«

»Quäl dich nicht, mein Fährmann. Ob eine Stunde, eine Nacht oder ein Tag, alles kann und muss uns ein Leben sein!«, will ich ihn trösten.

»Aber ich kann sie schon hören!«

»Unsere Liebe lässt sie verstummen!«, sage ich, obwohl auch ich sie deutlich in der Ferne grollen höre, und stimme die alte schottische Weise an: 

Die Sonne sinkt, es steigt die Nacht, 

vergangen ist der Tag. 

Die Welt schläft ein, und leis´ erwacht 

der Nachtigalle Schlag.

So ist in jedem Anbeginn

das Ende nicht mehr weit.

Wir kommen her und gehen hin

und mit uns geht die Zeit.

Edgar hat unterdessen die Ruder zurück ins Boot geholt und ich setze mich neben ihn, als er in den Refrain mit vor Rührung vibrierender, aber entschlossener Tenorstimme einstimmt:

Should auld acquaintance be forgot,

and never brought to mind? 

Should auld acquaintance be forgot

and auld lang syne.

Er legt den Arm um mich, ich lehne meinen Kopf an seine Schulter und eng umschlungen treiben wir schneller und schneller in der Strömung, denn der Fluss hastet jetzt durch eine Enge zwischen beiden Ufern schartig aufragender Felsen hindurch. Unser Lied trägt weit durch die feierlich beschienene Nacht und wir fühlen uns wie zwei Mikroben unter einer gigantischen Glocke, die innen ausgekleidet ist mit dem funkelnden Sternenhimmel und dem Mond, der wie der Klöppel darin hängt. Doch zwischen die zarten Obertöne drängt sich schwerfälliges Bassgrollen und entwickelt sich zu einem unheilverkündenden Crescendo. 

»Es ist soweit«, raune ich Edgar ins Ohr, aber er weiß es natürlich selber. 

»Ja. Ach, Alice, wird es irgendwann leichter werden?«, fragt er betrübt und will über seine Schulter einen Blick in Fahrtrichtung werfen.

»Das ist es doch schon, oder etwa nicht? Nein, dreh dich nicht um, wir wissen doch, was kommt!« Ich nehme sein Gesicht in meine Hände, presse meine Lippen auf die seinen und er erwidert den Kuss leidenschaftlich. Die Welt um uns herum rauscht, tost und brüllt, das Boot schlingert, dreht sich und trudelt durch Stromschnellen, prallt wie eine Billardkugel hart an Felsen, die ihren übernatürlichen Schimmer verloren haben und nun mit aggressiver, kalter Nässe glänzen. Wolkenfetzen verdunkeln den Mond und die Finsternis aquarelliert in satten Grautönen. 

»Wenn wir uns wiedersehen, liebster Fährmann, wirst du überhaupt nicht bemerkt haben, dass ein ganzes Jahr vergangen ist«, sage ich, greife nach seinen ruhelosen Händen und werde sie von nun an nicht mehr loslassen.

Edgars Stimme klingt brüchig: »Liebes, ich habe mitgezählt, weil ich die Endlichkeit meiner Kraft und die schlaflockende Ewigkeit fühle. Rechne ich das allererste Mal, den Tag, an dem wir beide hier starben, mit,  so wird uns der Wasserfall gleich das einhundertste Mal in die Tiefe reißen. Stets erleben wir nur die wenigen Stunden bis Mitternacht und die Wiederholung des längst vergangenen Endes. Nie Zukunft. Bist du das nicht leid?«

Ma hatte recht, das Bittergrau ist jetzt allgegenwärtig und hat die silbern glitzernde  Magie der einzigartigen Nacht vor Allerheiligen verschlungen.

»Nicht, Edgar! So darfst du nicht denken! Ich würde tausend Jahre auf nur eine tausendstel Sekunde mit dir warten. Hast du mich denn nicht mehr lieb?«

»Wie kannst du daran zweifeln! Aber gerade deshalb …« Der Satz bleibt offen und schwerelos über dem Abgrund hängen, während blinkende Sterne vom Himmel herabstürzen und uns im Fall in die Unendlichkeit überholen, als wollten sie uns heimleuchten. Oben wird unten und unten oben. Raum und Zeit zerfließen, verrinnen und versickern in zahllosen sich auftuenden schwarzen Löchern, um sich irgendwo, irgendwann neu zu sammeln.


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© Inhalt urheberrechtlich geschützt – H. M. Kaufmann 31.10.2021

(Titelfoto: Collage unter Verwendung eines Bilds von jusuf111 auf Pixabay – vielen Dank!)