Hausierer klingeln nicht mehr an Haustüren, sie haben einen Social Media Account!
Es ist eine verrückte Zeit, in der wir leben! Verrückt im allerwörtlichsten Sinne, weil Werte und Lebensziele sich zwar immer schon gemächlich verändert haben, sich aber im Zeitalter der sozialen Medien derart rasant „ver-rücken“, dass wir kaum noch hinterherkommen. Wunsch, Traum, Wahrheit, Realität, Lüge, echt oder Fake – die Grenzen sind undurchschaubar und dehnbar geworden. Wem kann man noch trauen, was darf man sich trauen? Was traue ich mir selbst zu? Was sagt mir mein Bauchgefühl?
Je häufiger wir mit Predigten über Selbstliebe, Akzeptanz, Toleranz und Nächstenliebe konfrontiert werden, desto weniger werden diese Werte scheinbar tatsächlich von uns umgesetzt und gelebt. Fotogene und schick gestylte Menschen ohne jegliche Kamerascheu ziehen geschwätzig blank und berichten in gut gelaunten Stories täglich von ihrem Selbsthass und ihrem vorgeblich fehlenden Selbstwertgefühl; und unter einer Herzchenflut kommentieren sämtliche Follower „Oh, du Arme:r – fühl dich gedrückt!“, und ich lese das und frage mich, auf welcher Seite soeben mehr gelogen wurde. Wir legen Lippenbekenntnisse ab und sind Meister der öffentlichen Solidaritätsbekundungen geworden. Wir lieben mediale Auftritte, zu denen wir uns mit Regenbogenfahnen, Black-lives-matter-Buttons und Schleifenbekenntnissen verschiedenster Couleur dekorieren oder outen (ja, auch ich trage gelegentlich grün), aber wieviel bleibt von der grundsätzlich positiven Haltung übrig, wenn kein Publikum zuschaut? Wie tolerant sind wir TATsächlich dann noch, wenn wir handelnd, mit Zivilcourage und eigener Meinung dafür einstehen müssen? Ohne, dass jemand ein Handyvideo davon macht? Würde man sich ausschließlich im Internet bewegen und nicht im ‚rl‘ (das Trendkürzel für die Wirklichkeit, also real life), entstünde schnell der Eindruck, es gäbe nur noch „Zum-Munde-Redner“ oder Menschen mit höchst ’speziellen‘ Ansichten und Kommentaren, von denen ich ehrlich gesagt keine weitere Kenntnis wünsche.
Ich bin dem Übermaß süßlicher Brushscript-Metapherbildchen, der tausendfachen Meme-Verbreitung und Affirmationssprüche so überdrüssig geworden, wie ein Kind, dem man zum Frühstück, Mittag- und Abendessen ausnahmslos Eis und Süßigkeiten reicht. Zuckerschock, Übelkeit, danach andauernde Vermeidung sind die Resultate.
Selbstliebe wird nicht selten am lautesten von denen propagiert, die sie am wenigsten benötigen. Und nur Narren hängen an ihren Lippen und saugen jede Phrase auf wie Nektar und schenken ihnen den so erbettelten Zuspruch! Das Internet und die sozialen Netzwerke machen es angeblich leicht, die eigenen Träume nach Ruhm, Zuwendung und Reichtum zu befriedigen. Schnelles Geld wird versprochen, wenn man nur mutig genug ist, etwas zu verkaufen. Aber was, wenn man kein Geld hat, um zuvor etwas zu kaufen? Die magische Antwort auf die Frage lautet, glaubte man den Marketing-Gurus: sich selbst oder Inhalte, von denen man vorgibt, sich damit auszukennen. Seither gibt es erstaunlich viel mehr Experten für sonderbar klingende Sachgebiete und sie alle offerieren jetzt genau was? Richtig, Online-Kurse! Viel Geld muss ein gutgläubiges Opfer in die Hand nehmen (das ‚Beschnuppern‘ ist natürlich immer gratis) für das von Laien-Anbietern oberflächlich angelesene Wissen (von echten Sachverständigen), das sie in trendgemäß gepimpten Look, gewürzt mit eigenen Erfahrungen, versemmeln.
Ich habe derzeit zwei Themenschwerpunkte, denen mein persönliches Interesse gilt: Schreiben und psychische Gesundheit. Entsprechend lauten meine Suchbegriffe, und ich war – und bin es noch – entsetzt, wie viele selbsternannte Fachleute ihre Online-Kurse feilbieten. Geht es um das Schreiben, bin ich großzügig und denke, da muss und kann der Nutzer/Käufer selber entscheiden, ob das Preis-Leistungsverhältnis gerechtfertigt ist oder ob ein gutes Fachbuch für 20€, 30€ nicht günstiger und mindestens ebenso hilfreich wäre. Okay, ich weiß, heute kauft man bevorzugt nicht Weisheiten, sondern Communitys und die stecken naturgemäß nicht in Büchern! Die müsste man aber lesen, und für nicht wenige ist schon die Kochanleitung für Nudeln zu viel Text!
Wo meine Toleranz hingegen ein abruptes Ende findet, ist, wenn mit der körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheit potentieller Käufer jongliert wird! Wenn man sich die Naivität und Verzweiflung Erkrankter oder deren Angehöriger zunutze macht, um ihnen das Geld für Angebote aus der Tasche zu ziehen, die Betroffene in geprüften Therapien oder von ausgebildeten Therapeuten seriös, kostengünstiger oder sogar kostenlos über ihre Krankenkasse erhielten. Diese Anbieter treiben ein für sie lukratives, aber gefährliches Spiel mit der Gesundheit der Nutzer, die ihnen und ihrem Rat vertrauen! Auf den jeweiligen Profilen der Kursanbieter findet sich entweder kein oder ein sehr verschwurbelt klingender Hinweis auf die fachliche Kompetenz oder Ausbildung. Untereinander unterscheiden sie sich zumeist lediglich durch eine andere Hausfarben-Kombination ihrer grafisch ausgefeilten Webauftritte. Plakative, beruhigend pastellfarbene Untergründe, flotte Sprechblasen in harmonischer Zweitfarbe mit Stichpunkten gefüllt, die in wahrhaft in jeder Veröffentlichung über die jeweilige Thematik zu finden sind. Jeder Pickelhering kann das mit ein bisschen grafischem Geschick und einer Prise Skrupellosigkeit nachbasteln und wird eins-fix-drei zur belebenden Konkurrenz. Angereichert wird das Angebot durch den knackigen Grundtenor von „Ich habe die … überwunden, das kannst du auch!“ oder „Depressionen für immer loswerden in … Tagen“ und, für die Glaubwürdigkeit, ein wenig Eigenerfahrung. Jeder der schon mal in der Geisterbahn geschrien hat und es heute nicht mehr muss, wird zur selbsternannten Koryphäe auf dem Gebiet der Angsttherapie, jeder, der durch Tod einen lieben Angehörigen verloren hat, wird Fachmann/Fachfrau für Trauerbewältigung und jeder, der schon mal an Freitod dachte, hält sich für berufen, Depressionen anderer den Kampf anzusagen. Wirft man einen genauen Blick auf die Blender-Beiträge und vergleicht sie, wird deutlich, dass sie alle identische Kernaussagen beinhalten, die sich nur in der Formulierung unterscheiden. Natürlich kann das Rad von ihnen nicht neu erfunden werden. Das Risiko tragen die Hilfesuchenden und das Nachsehen haben die seriösen Anbieter. Am erfolgreichsten (für sich selbst, versteht sich) sind Profilinhaber mit der größten Reichweite! Sie ist der moderne Maßstab für lukrativen Erfolg oder Misserfolg geworden!
Ja, ich selbst habe soeben mein Memoir veröffentlicht, das sich ausschließlich mit meiner, keinesfalls zu verallgemeinernden Angststörung auseinandersetzt und der Verdacht der Nestbeschmutzung könnte naheliegen, würde ich mir anmaßen, Ratschläge oder Tipps zu geben. Das ist jedoch nicht der Fall! Ich bin in erster Linie Betroffene und gerade deshalb ärgert mich die Schwemme dubioser Heilungsversprechen in Publikationen und Netzprofilen, die kinderleichte Abhilfe durch das Vorbeten von Affirmationen, Gesprächen mit dem Spiegelbild oder Kampfansagen an die Krankheit versprechen. Wie schnell greift hier der negative, umgekehrte Effekt und Erkrankte, bei denen diese (im korrekten Kontext oft durchaus probaten) Mittel ohne Erfolg bleiben, verzweifeln an der so empfundenen Bestätigung eigenen Versagens, wenn sie nach der zugesagten Zeit weder frei von Angst, Depressionen oder Selbstzweifeln sind. Sie fühlen sich wie ein gelähmter Rollstuhlfahrer, dem man nach einem therapeutischen Misserfolg eingeredet hat, er hätte nur nicht genug Willen und Energie aufgebracht, um wieder laufen zu können.
Versteht mich nicht falsch: Echte, glaubhafte Erfahrungsberichte sind ein wichtiger Pfeiler, um eigene Probleme gezielt anzugehen. Sie setzen menschliche Impulse, inspirieren im Idealfall, machen Mut, geben Möglichkeiten zum Vergleich und dienen einem breiten, besseren Verständnis in der Öffentlichkeit. Einen weiteren Pfeiler bilden seriöse Sachbücher, geschrieben von Ärzten, ausgebildeten Therapeuten und Co., die auf langjährige Erfahrungen mit Klienten und Patienten auf den jeweiligen Spezialgebieten zurückblicken und daher, trotz eventuell unterschiedlicher Lösungsansätze, dennoch stets kompetent sind. Die ambulanten oder stationären, medikamentgestützten Therapieangebote sind in schwereren Fällen der sicherlich tragfähigste Pfeiler. Der letzte wird von den Betroffenen selbst gebildet, deren Mitarbeit für einen Erfolg unabdingbar ist, genauso wie die der Angehörigen und Freunde.
Und so gerne wir es glauben würden, aber es gibt keine wirkungsvolle Therapie, die, im Gießkannenprinzip ausgebracht, gleichermaßen für jeden Betroffenen geeignet ist. Jede Erkrankung ist individuell, so wie auch vergleichsweise Krebstherapien nicht schablonenhaft auf jeden Patienten anwendbar sind. In austherapierten Fällen (wie meine Angststörung) liegt das Geheimnis einer Verbesserung der Lebensqualität in der Akzeptanz der Angst. Nicht Resignation, nicht kraftraubender Kampf, keinesfalls Freundschaft (schließlich wünscht man sich nicht, dass Freunde verschwinden mögen), sondern das Annehmen eines Lebens mit der Beeinträchtigung.
Populärwissenschaftliche Aufklärung ist auf diesem Gebiet ungemein wichtig, insbesondere um psychische Erkrankungen zu enttabuisieren. Ganz allgemeine Ratschläge zur alltagstauglichen „Psychohygiene light“ lasse ich mir durchaus auch von engagierten Laien gefallen, aber bei Erfolgszusagen und Ersatztherapien als Online-Kurs-Angebot durch „Ehemalige“ bin ich definitiv raus, und ich frage mich, warum niemand diese gefährliche Geldschneiderei auf Plattformen, die auch sehr jungen Nutzern zugänglich sind, unterbindet.
Mein Rat, solltet Ihr betroffen sein und Hilfe suchen: Bleibt misstrauisch und kritisch, wenn Euch Hilfen durch Blitzkurse oder dergleichen angeboten werden. Alles was schnell hilft, hättet Ihr ohnehin alleine und ohne großes Loch im Kontostand geschafft! Sucht nicht in sozialen Netzwerken, sondern wendet Euch an wirkliche Fachärzte oder Therapeuten. Und wenn Ihr doch ein interessantes, vertrauenswürdig wirkendes Profil entdeckt habt, fragt nach Ausbildung und Kompetenz – was befähigt die Anbieter zu ihren Kursen? In akuten, ernsteren Fällen fragt auf jeden Fall zunächst Euren Hausarzt, der über sämtliche Hilfsangebote Eurer Region informieren kann. Niemand geht in eine Autowerkstatt, um ein Brot zu kaufen oder lässt einen Ölwechsel beim Bäcker machen.
Titelbild unter Verwendung eines Fotos von John Hain auf Pixabay – vielen Dank!