Anyway

Kurzgeschichte

Die Schiebetür eines Lieferfahrzeugs … Schritte zur Haustür … der Gong … dann Nadeschdas klackende Absätze auf dem Laminat im Flur. Gemurmel. Martin konzentrierte sich wieder auf seinen Roman.

»Marti?«

Das ›N‹ am Ende seines Namens hatte er zusammen mit seiner Unschuld in ihrer ersten gemeinsamen Liebesnacht vor über fünfzig Jahren eingebüßt. Martin schlurfte in die Küche.

»Marti, hast du das Cuttermesser aus der Schublade genommen?« Mehr Vorwurf als Frage.

Martin hob genervt die Brauen, die wie verdorrte, blattlose Wildhecken die sanften Augen vom Haaransatz trennten. Auf dem Esstisch lag ein flaches Paket in der konischen Form eines Sarges, und Nadeschda flitzte umher wie ein Eichhörnchen, das seine Vorräte nicht wiederfand. Er liebte seine Frau, aber nicht ihre Schusseligkeit. Das Damoklesschwert Demenz schwebte über dem Paar, und sie belauerten sich in ständiger Erwartung früher Anzeichen für diesen hinterhältigsten aller Abbauprozesse.

»Ich habe das Messer nicht genommen«, sagte er.

»Aber es liegt nicht an seinem Platz!«

»Wofür brauchst du´s denn?«

»Ist das nicht offensichtlich?« Sie klang gereizt. »Die Verpackung ist mit so vielen Lagen Paketband verklebt, als sollte sie eine Weltumsegelung überstehen.«

»Warum nimmst du nicht die Küchenschere, Liebes?«

»Das werde ich wohl müssen, aber deshalb bleibt der Cutter trotzdem verschwunden!«

Weibliche Logik, dachte Martin ohne ›N‹, und sagte: »Manche Dinge findet man, indem man ihr Fehlen einfach ignoriert.« 

»Du und deine Lebensweisheiten! Soll ich mich etwa hinsetzen und hoffen, dass mir alle verlorenen Sachen in den Schoß regnen?«

»Mach das, ich suche solange.«

Sie stritten selten, doch in letzter Zeit hatte sich die Atmosphäre zwischen ihnen zunehmend aufgeladen. Meist ging es um Bagatellen. Darüber wer wann was verbaselt hatte. Fanden sich die Gegenstände an einem ungewöhnlichen Ort wieder, beschuldigten sie sich gegenseitig. Die Wahrheit war, dass sie den Verlust ihres Verstandes, ihrer Würde und ihrer Selbstbestimmung mehr fürchteten als den des Lebens.

Nadeschda setzte sich und beobachtete Martin, wie er die Schublade mit allerlei Krimskrams erneut aufzog. Seine Augen überflogen das Sammelsurium wie ein Greifvogel, bevor er zielsicher einen Gegenstand herauspickte. »Meinst du das?« Seine Frau schien den Tränen nah. »Soll ich das Paket für dich öffnen?« 

Sie sagte leise: »Es ist sowieso für dich.«

»Ich habe aber gar nichts bestellt.«

»Ich wollte dir und damit auch mir eine Freude machen. Zwar feiern wir erst nächstes Jahr unsere Goldene Hochzeit, aber dieses Präsent benötigt noch etwas, sagen wir mal, Trainingszeit zur vollen Entfaltung.«

Vor einigen Wochen hatte Nadeschda einen Vortrag gehört, in dem eine bekannte Sachbuchautorin erklärte, wie man im Alter durch Lernen die Bildung neuer neuronaler Verbindungen im Gehirn fördern kann. Allerdings sollte der Lernstoff gänzlich unbekannt sein, beispielsweise eine Sprache, ein Instrument oder eine Sportart. Martin hatte die Idee mit dem Argument abgeschmettert, dass das Schrumpfen des Hirns sich nicht austricksen ließe. Doch seine Frau war stur geblieben, hatte ihm pure Bequemlichkeit attestiert und sich zu einem Englischkurs angemeldet. In ihrer Schulzeit hatte sie Russisch gelernt, aber ihre Lieblingslieder waren in englischer Sprache, und sie wollte sie nicht nur singen, sondern auch verstehen.

»Okay«, sagte Martin, »dann öffne ich mal den Sarkophag und wickele die Mumie aus.« Vorsichtig schlitzte er das Klebeband auf und befreite einen bedruckten Karton. Abrupt hielt er inne und schaute seine Frau ungläubig an.

»Ist es das, was darauf abgebildet ist?«

»Schau hinein.«

Er hob den Deckel ab und stöhnte. »Das kannst du nicht … du bist wohl wahnsinnig!« Behutsam, als assistierte er bei einer Entbindung, hob er eine Gitarre heraus. Martin setzte sich, strich über die makellose Mahagoniedecke und die Zarge entlang, bevor seine Finger ihrem Muskelgedächtnis folgten und er erste Akkorde anschlug. 

Nadeschda umfasste seinen Kopf, küsste ihn auf den Scheitel und ließ ihm einen Moment, um sich zu fassen. »Wie lange ist es her, dass du das letzte Mal gespielt hast?«

»Mindestens fünfunddreißig Jahre. Ich war aber nie gut. Kannte nur die paar Akkorde, die Vater mir auf seiner alten ›Martin‹ gezeigt hatte. Aber sie reichten, um unsere Lieblingssongs zu singen. Erinnerst du dich?«

»Aber ja! Ich weiß noch, dass wir immer gelästert haben, dass deine Eltern dich bestimmt nach Vaters Gitarre benannt hatten. Und wie sehr du dir damals eine eigene gewünscht hattest, um Fingerpicking zu üben. Jetzt hast du sowohl ein Instrument als auch Zeit.«

»Leider auch alte Finger. Du hättest mir besser ein Schlagzeug geschenkt, denn sie sind steif wie Trommelstöcke.«

»Dann mach deinen Fingern Beine! Du sollst ja nicht gleich Gitarrist in einer Rentnerband werden. Zumindest haben wir jetzt beide ein Lernziel.«

»Spukt dir immer noch die birkenbihlsche Neurogenese im Kopf herum? Ich bin überglücklich mit meinem Geschenk, aber ich lerne zu mein Vergnügen, nicht für meinen Hippocampus.«

Plötzlich brach es aus Nadeschda heraus. »Red kein dummes Zeug, Marti! Vorhin habe ich den Cutter gesucht, morgen sind es unsere Töchter oder du, und am Ende verliere ich mich selbst. Wie ein Amboss lastet diese Angst jede Nacht auf mir und droht mich zu erdrücken.« Sie weinte.

Martin legte das Instrument beiseite und nahm sie in die Arme. Wie sollte er sie trösten, wenn ihm dieses Gedankenkarussell in der sogenannten Wolfsstunde am frühen Morgen durchaus vertraut war? »Viele Hürden haben wir schon genommen, Liebes, und wir schaffen auch diese!«

»Aber am Ende kommen die höchsten.« Sie schloss die Augen und schubste mit den Lidern letzte Tränen die Wangen hinunter. Energisch wischte sie sie fort. 

Doch Nadeschdas Verzweiflung wurzelte tief. Ohne Martin einzuweihen, hatte sie kürzlich einen Termin bei einem Neurologen ausgemacht. Schonungslos offen hatte er ihr die Untersuchungsergebnisse mitgeteilt und sie in eine Finsternis gestoßen, die ihr wie ein Loch in die Ewigkeit vorkam. Das Universum medizinischer Diagnosen war von unvorstellbar grausamen Gespenstern bevölkert! Als sie allmählich ins Licht zurückgekehrt, der Arzt sich in Trostphrasen geflüchtet hatte, war sie hinaus gerannt und hatte erst vor ihrer Haustür gestoppt. Dort wurde sie minutenlang von einem irrwitzigen Lachanfall geschüttelt. Ihre Fitness erschien ihr paradox! Denn weder ihr gesunder Kreislauf noch die beweglichen Gelenke konnten sie retten. Die alte fiktive Angst wich der neuen, realen. Und wie sollte sie das Martin beibringen?

Aus seinem Arbeitszimmer drangen jetzt oft gezupfte, flirrende Gitarrenriffs und Akkordmuster – ab und zu begleitet von derben Flüchen. Eines Abends brachte Nadeschda ihm einen Tee in sein Zimmer und fand ihn über Prospekten und Webseiten brütend.

»Es klingt verrückt, aber wir werden es tun!«, sagte er unvermittelt.

Ein Schauder überlief sie, von dem sie nicht genau sagen konnte, ob er wohlig warm oder warnend kühl war. »Was hast du wieder ausgeheckt?«

»Wir werden eine Reise machen! Ich habe einen Teil der Rücklagen für unsere Beerdigungen abgezweigt und uns ein Wohnmobil gemietet. Ein richtig cooles Teil mit allem Pipapo.« Ihr Mann schaute sie erwartungsvoll an, und seine Augen leuchteten wie die eines Kindes an Heiligabend. 

»Du hast recht, das ist total verrückt!« 

»Früher haben wir öfter solche Sachen gemacht. Wo ist unsere Spontanität geblieben? Wir sind wie Zombies, die alle Erwartungen, die die Gesellschaft an uns hat, erfüllen: Wir sind ausgemustert, unsichtbar, teuer und sind deshalb hoffentlich bald endgültig tot. Nur als Verbraucher sind wir noch von Wert. Ich will nicht in Schockstarre warten, bis einer das Licht ausknipst! Soll der Tod uns mitten aus dem Leben holen, nicht erfleht aus einem unpersönlichen Heimbett. Ich will keine würdelose Witzfigur für empathisch minderbemittelte Pflegehilfskräfte werden, die Selfies von meiner Bettkante aus bei Social Media posten, während ich in Windeln und an diverse Geräte gekoppelt meinem Ende entgegendämmere. Verstehst du das?« 

Nadeschda verstand seinen Ausbruch. Martin hatte die Flasche entkorkt und den Geist frei gelassen. Als Frau, zudem Tochter russlanddeutscher Eltern, wurde sie früh mit Diskriminierungen konfrontiert, als psychisch Erkrankte – sie litt seit ihrer Jugend an Panikattacken – ebenfalls. Jetzt war das Alter hinzugekommen und unterschwellige Ausgrenzung erlebten sie beide täglich. Kam Altersarmut hinzu, wie damals bei den Schwiegereltern, wurde man von der sozialen Hierarchie nach unten durchgereicht!

Euphorisch schwärmte Martin: »Weißt du, ich wünsche mir einen Roadtrip auf dem irischen Wild Atlantic Way. Und wir nehmen uns Zeit. Wo es schön ist, da bleiben wir, bevor es weiter die Küste entlang geht.Wir sind frei, Liebes! Verrückt sein bedeutet doch nur, den Fokus zu verrücken

»Marti … wir sind nicht frei.« Endlich erzählte Nadeschda von ihrer Diagnose und ihrem unumstößlichen Entschluss, sich nicht einer Operation zu unterziehen, die ihr, wenn überhaupt, nur wenige Monate Aufschub gewähren würde. Sie sah seine Trauer und wie er unter der Ausweglosigkeit litt.

»Aber uns bleibt die Hoffnung, oder? Das ist doch sogar die Bedeutung deines Namens.« Er bettelte, er handelte mit dem Universum und fasste einen Entschluss. »Wir werden diese Reise trotzdem machen! Wir verhandeln nicht mit Terroristen, und wir kapitulieren nicht vor einem Scheißtumor!«

Und so planten sie das couragierteste Vorhaben ihres Lebens: das Lösen sämtlicher Fesseln, ihre Befreiung aus dem Korsett des Alltags. Sie sprachen mit Ärzten und mit ihren Kindern, sie verkauften ihr Haus und kauften ein Wohnmobil. Sie packten das Nötigste und wappneten sich gegen Notfälle. Weitere Pläne: keine. Ohne Leichtsinn vertrauten sie sich allein ihrer Hoffnung an. 

Es folgten unbeschwerte Wochen, in denen sie wie Entdecker auf dem Ozean spektakuläre Landschaften durchpflügten und sich auf den Wellen der Zeit treiben ließen. Hoch auf den Klippen über dem Atlantik sahen sie nach trüben Regentagen der Sonne auf ihrem Weg zur Nachtruhe zu. Das wechselnde Farbenspiel des Horizonts und des Meeres war betörend. Martin spielte auf der Gitarre. Er wurde täglich besser, fand Nadeschda. Die letzte Melodie erkannte sie sofort, ein Song der Folkband ›The Dubliners‹. Er summte dazu, bis sie, anfangs noch scheu, dann selbstbewusster zu singen begann:  

»Watch the full moon rising, like a ghost of the sun.
Oh, dawn will be more surprising, when a new day has begun.
Don´t give up till it´s over, don´t quit, if you can …«

Lyrics and Music by J. C. Duhan

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