Hoffnung entsteht, wo sonst nichts ist.

Weihnachtliche Kurzgeschichte

Ein etwa zwölfjähriger Junge tritt in die Schwärze der Winternacht, in die, nur im Bereich der geöffneten Tür, ein Lichtkeil getrieben wird. Ich kenne das Kind nicht, weiß aber, dass es Miron heißt. Miron, der Friedensbringer. Er stapft hinüber zu einem Schuppen, der, genauso wie das Haus aus dem er kam, deutliche Zeichen eines Bombardements davon getragen hat. Miron muss keine Tür öffnen, denn die Bretterbude hat nur noch drei intakte Wände und ein halbes Dach. Mit Spaten und Eimer strebt er dem Wald zu, der sich hinter dem Haus ausdehnt. 

Ein schwächelnder Taschenlampenkegel weist ihm den Weg zu einer kleinen Fichte – kaum einen Meter hoch. Miron murmelt etwas, das ich nicht verstehe, wobei er seinen Blick hoch hinauf in die benachbarten Bäume richtet. Dann beginnt er schonend zu buddeln, um die Wurzeln nicht zu verletzen. Er hat es den Elternbäumen versprochen. Schwerstarbeit, denn der Boden ist knüppelhart gefroren, aber er will das Bäumchen lebend haben. Zu viele Verluste hat Miron in seinem kurzen Leben erfahren. Zuletzt hat er seinen Vater an den verfluchten Krieg verloren. Er ist jetzt der Mann im Haus. Die Sorge um seine Geschwister Natalja, die heute ihren achten Geburtstag hat, und den kleinen Pavel teilt er sich mit ihrer Mumiya. Die Kleinen waren so traurig, dass sie keinen Weihnachtsbaum haben würden. Geschenke erwarten sie in diesen schlimmen Zeiten sowieso nicht. Doch Miron will ihnen wenigstens einen kleinen Baum schmücken, den er später seinen Verwandten wieder zurückbringen will. 

Schwer schneidet der Henkel des Eimers in Mirons blasenübersäte Handfläche. Mochte die Fichte nicht viel wiegen, aber der frostige Erdballen desto mehr. Froh, ihn bis zum Haus geschleppt zu haben, stellt Miron den Eimer in den kleinen Hof, bringt beim Zurückstellen des Spatens eine Holzstiege aus dem Schuppen mit, in der er übers Jahr gebastelten Baumschmuck vor neugierigen Geschwisteraugen versteckt hatte. Püppchen aus Stroh, Spinnen aus Nussschalen, Zapfen und kleine Sterne aus getrockneten Halmen und Holzspan. Zufrieden betrachtet er sein Werk. Mit etwas Glück würden echte Spinnen noch glitzernde Schleier weben, galten sie doch hier als Glücksbringer. Während er schnell noch ein wenig aufräumt, beginnt es zu schneien. Dicke, federleichte Flocken schweben herab, hocken sich dicht gedrängt auf die Nadeln des Weihnachtsbaumes und schubsen sich gegenseitig vom Zierrat. Die Welt wird still und verlangsamt sich. 

Die Haustür fliegt auf und Natalja und Pavel stürzen hinaus. „Mumiya komm raus, es schneit“, rufen sie, „und ein richtiger Weihnachtsbaum steht hier!“ Übermütiges Gelächter begleitet ihr Gehopse um das Bäumchen und Miron strahlt vor Stolz. Als ihre Mutter dazu kommt, stehen sie alle andächtig im Hof und bestaunen die kleine, herausgeputzte Fichte. „Aber ein Stern für die Spitze wäre noch schön“, sagt Natalja.

Da erhebt sich aus dem Nichts eine schneidend kalte Böe, und alle drehen dem angreifenden Wind sofort ihren Rücken zu und schließen ihre Augen. Der eisige Windstoß jault wie ein getretener Hund, als er um das kriegsversehrte Haus jagt und in dann in das Dickicht des Waldes fährt. Als wäre ein Spuk entsandt worden, der dem eigentlichen Zauber den Weg frei machen sollte, denn als sich die Mutter und ihre Kinder wieder dem Bäumchen zuwenden, strahlt er im Sternenglanz eines kristallklaren Himmels, über den sich, Geschenkbändern gleich, irisierende Lichteffekte in purpurrot und türkis winden. „Polarlichter! Oh, die hat es bei uns doch noch nie gegeben“, staunt die Mutter und weint vor Freude. Die vier nehmen sich in den Arm und beginnen zu singen.

„Frohe Weihnacht!“ Ein Bassstimme.

Meine Lider flattern. Ich erwache aus meinem Traum mit einem erstickten Röchelton, weil mein Kopf nach hinten gesackt war. Mein Gesicht ist tränenfeucht und ein Speichelrinnsal läuft aus meinem Mundwinkel. Peinlich! Gut, dass mich niemand sieht. Meine Erinnerung kommt nur langsam zurück, denn ich bin todmüde und letzte Traumfetzen geistern noch durch mich hindurch. Der Fernseher begab sich selbst in den Ruhemodus, als ich einnickte. Ein kitschiger Weihnachtsfilm hatte mich samt meiner alten Erinnerungen zur Ruhe gebettet. 

Das Erschrecken kommt in Etappen und erst in der letzten schreie ich entsetzt auf! Neben mir auf der Couch sitzt jemand. Per se nichts Erschreckendes, jedoch nicht, wenn man wie ich, alleine in Zimmer 24 im Seniorenstift lebt. Eine große weiß behandschuhte Hand legt sich auf meine Schulter.

„Nicht doch! Bitte, hab‘ keine Angst.“ Die Bassstimme!

Ich starre und bin erstarrt. Neben mir sitzt … ein? … der? … Weihnachtsmann! Weder hat er geklopft, noch habe ich einen Kamin. Wie also, ist er hereingekommen? 

Er liest meine Gedanken. „Großes Weihnachtsmann-Geheimnis“, sagt er und lächelt sein Großvaterlächeln. „Hat dir meine Geschichte gefallen?“

„Welche Geschichte?“ 

„Na, die von Miron natürlich!“

Mein Traum fällt mir wieder ein. „Deine Geschichte?“

„Ich habe sie dir erzählt, weil du traurig warst und im Schlaf geweint hast. Ein Weihnachtsfest braucht nicht viel. Ein paar Lieder, ein paar schöne Geschichten und Menschen, mit denen man beides teilen kann. Alles andere ist überflüssig. Ich weiß, dass du keine Lust hast, aber nimm Heiligabend an der Weihnachtsfeier teil. Alle haben sich viel Mühe gemacht und der Baum ist herrlich geschmückt. Mache deinem Namen Ehre, Hope.“


© Inhalt und Titelzeichnung urheberrechtlich geschützt – H. M. Kaufmann 12.12.2023