In deinen Schuhen

Nikolaus-Kurzgeschichte

Doppler-Effekt. Ein akustisches Phänomen, das auftritt, wenn Schallwellen durch die Entfernungsänderung zwischen Sender und Empfänger gestaucht oder gedehnt werden, rekapitulierte Bert noch im Halbschlaf. Unten auf der Straße erreichte das jaulende Martinshorn den Höhepunkt seiner Lautstärke und raste mit allmählich tiefer und leiser werdendem Signal vorüber. Für irgendjemanden in der Stadt war Schluss mit lustig, dachte der Junge, wie für seinen Vater vor elf Monaten. Da hatte das Martinshorn nicht am Haus vorbei geheult, sondern genau davor gehalten. Rettungssanitäter waren mitten in der Nacht in ihre kleine Wohnung gestürmt, hinein in das beengte Schlafzimmer seiner Eltern. Und nachdem sie nach einer gefühlten Ewigkeit gegangen waren und Paps auf einer Bahre mitgenommen hatten, hatte seine Mutter so kerzengerade und reglos im Flur wie ein vergessener Koffer auf einem Bahnsteig gestanden. Ihre Tränen waren viel später gekommen, Tage nach der Beerdigung, aber sie waren geblieben. Mal sprudelten sie wie Schmelzwasser aus dem Gebirge, begleitet von unbeschreiblichen Klagelauten, oder sie quollen einfach eine nach der anderen aus ihren Augen, als hätten sie ein Leck, und tropften in ihren Schoß. Bert suchte ihren Trost, wollte ihr welchen schenken, aber Mam wohnte nicht mehr in sich. Vielleicht war sie aber auch noch tief drinnen und ließ nur niemanden mehr hinein. Nicht einmal ihren Sohn.

Der neue Tag war erst sechs Stunden jung. Obwohl er noch Zeit hatte, beschloss Bert aufzustehen, um die Wohnung von seiner schlafenden Mutter unbemerkt verlassen zu können. Er freute sich auf die Schule. Das Lernen lenkte seine trüben Gedanken in neue, spannende Richtungen und das machte ihn für kurze Zeit ein wenig glücklich. Am heutigen Nikolaustag wollten sie in der ersten Stunde wichteln und ihre Klassenlehrerin hatte ihnen anschließend die Vorstellung eines Buches versprochen, aus dem sie die ersten Kapitel vorlesen wollte. Die kleinen Wichtelgeschenke hatten die Kinder hübsch verpackt und mit einer Nummer versehen Ende November abgegeben, und heute sollten sie endlich verlost werden. Bert hatte sich von einem seiner kleinen Modelltrucks getrennt, der noch fast wie neu aussah, denn Mam hätte er nicht nach einem Geschenk fragen wollen. Dafür haben wir nun wirklich kein Geld, hätte sie nur lamentiert. Aber für deine Psychopillen, fürchtete er sich, ihr darauf zu antworten, die du wie Erdnüsse verschlingst und die dich dann in den Dornröschenschlaf knallen. Ein zweites Mal Martinshorn vor der eigenen Tür würde er nicht aushalten können.

Der Boden fühlte sich unter seinen nackten Füßen an wie ein gefrorener See, als Bert ins Bad ging, aber das half ihm, richtig wach zu werden. Weil der Boiler noch nicht vorgeheizt war, blieb es wie immer bei einer Katzenwäsche und dem allmorgendlichen Zahnschock beim Spülen mit dem eisigen Leitungswasser. Rasch zog er, mit Ausnahme seiner Unterwäsche, die Klamotten vom Vortag an, denn zum Waschen hatte Mam sich natürlich wieder nicht aufraffen können. Mit etwas Glück würde er sich noch ein Marmeladenbrot für unterwegs schmieren können, hoffte er, während er leise an der Schlafzimmertür seiner Mutter vorbei in die Küche schlich. Er packte das fertige Brot in seinen Ranzen, holte eilig eine Tüte Milch aus dem Kühlschrank, um noch einen Schluck zu trinken. Doch die Milch war dick und sauer geworden und er spuckte sie angeekelt in die Spüle. »Boäh!«

»Berti?« 

Schon am frühen Morgen lag aller Welten Qual in diesem einzigen Wort.

Scheiße, dachte er. Scheiße, Scheiße, Scheiße!

»Morgen, Mam«, rief er. »Ich muss los, bin spät dran heute!« Dass das nicht der Wahrheit entsprach, würde sie wahrscheinlich nicht merken.

Wieder die leidende Stimme jenseits der Tür. »Schon gut, Schatz. Du musst mir nur vorher noch meinen üblichen Gefallen tun, okay?«

»Kann das nicht bis nach der Schule warten? Die Apotheke hat doch noch zu.«

»Ach, komm, Berti! Du weißt, ich brauche das Rezept und die Apotheke hat heute Nachtdienst.« Bert hasste dieses weinerliche Flehen und Betteln. Die Schlafzimmertür öffnete sich jetzt einen Spalt und eine kleine, dünne Frau zwischen dreißig und vierzig, zwischen ehemals attraktiv und jetzt hohlwangig, zwischen brünett und eisengrau, zwischen porzellanhäutig und zerknittert stand dahinter. Sie streckte ihren knochigen Arm vor und hielt ihm das pinkfarbene Rezept und einen Zwanzig-Euro-Schein hin. Ihre Augen lagen wie zwei Braunbären tief und reglos in dunklen Höhlen, als lägen sie im tiefsten Winterschlaf.

»Na, gut«, maulte Bert, »gib schon her. Aber bleib wenigstens wach, mach dir ´nen Kaffee, aber leg dich ja nicht wieder hin, du weißt, Oma kommt heute schon um elf.«

Andere Kinder hatten heute allerlei Süßigkeiten oder sogar richtige kleine Geschenke in ihren Schuhen vorgefunden. Berts knöchelhohe Leinenschuhe beherbergten lediglich ein Zweitpaar Socken, das er zum Schutz vor der Kälte zusätzlich anzog, bevor er seinen schwarzen Anorak überwarf. Seit der Beerdigung trug der Junge ausschließlich schwarz, weil Farben ihm einfach zu laut waren. Er schloss die Wohnungstür auf, steckte die Schlüssel in die Tasche und rannte die Stufen der drei Stockwerke hinab. Das Zentrum der ringförmigen Wohnsiedlung glich einer runden Insel mit allen wichtigen grundversorgenden Geschäften, einer Arztpraxis, einem Kinderhort, einem betreuten Jugendzentrum und der Apotheke, deren Schild »Notdienst« mit der Klingel darunter tatsächlich leuchtete. Der Inhaber kannte Berts Familie und wusste, dass der Junge die Rezepte für seine Mutter abholte, da sie selbst seit dem plötzlichen Herztod ihres Mannes dazu nicht mehr in der Lage war. Bert tat ihm leid. Er hätte mit seinen zwölf oder dreizehn Jahren selbst dringend Unterstützung, nicht nur finanzielle, gebraucht, aber außer der Mutter seines verstorbenen Vaters, die einmal täglich um die Mittagszeit kam, schien es niemanden mehr in der Familie zu geben, der sich um ihn kümmerte. Er händigte dem Jungen das verordnete Medikament in einer kleinen Papiertüte aus und steckte ihm noch einen Schokoriegel zu.

»Weil heute Nikolaus ist.« Er zwinkerte Bert verschwörerisch zu. »Alle Kinder bekommen heute was!«

Bert bedankte und freute sich über die kleine Überraschung. Gierig riss er sofort das Papier ab und biss hinein. Hmmh, Erdnuss und Karamell! Mam musste das nicht wissen, sie hielt solche Geschenke für Almosen und hätte ihm sicher verboten, es zu anzunehmen. Er schluckte gerade den letzten köstlichen Bissen herunter, als er das Treppenhaus betrat und ihm ein Mann mit Dreitagebart und kräftiger, sportlicher Statur in einem knallroten Winterparka von oben entgegenkam. Belustigt stellte Bert fest, dass der Typ ebenfalls Chucks trug, die sogar noch ausgelatschter und dreckiger aussahen als seine eigenen. Vielleicht ein neuer Mieter, die wechselten hier so schnell wie das Wetter an der Küste. 

»Hi, Bert! Bis später«, grüßte der Typ im Vorbeilaufen. 

Bert stutzte und sah ihm über das Treppengeländer hinterher. Woher kannte der seinen Namen? Vielleicht war er gerade bei seiner Mutter gewesen? Ein neuer Lehrer vielleicht? Zwei Stufen auf einmal nehmend hetzte der Junge in den dritten Stock. Noch bevor er ganz oben war, bemerkte er, dass etwas auf dem Abtreter vor der Wohnungstür stand. Schuhe? Stiefel! War Besuch gekommen? Er hockte sich vor die Stiefel. Es waren nagelneue Boots aus schwarzem Glattleder, innen mit weichem Fell gefüttert und auf dem durchsichtigen Klebeetikett stand Gr. 39 – genau seine Größe. Er hätte sie tatsächlich für sein Leben gerne besessen, gestand er sich ein. Echt coole Treter! Er hob einen hoch, weil etwas darin steckte. Eine Karte. Er zog sie aus dem Stiefel. Es war eine dieser Fotokarten mit Lebensweisheiten, auf die die Mädchen in seiner Klasse so abfuhren. Die Abbildung zeigte ein Paar einfache, mit indianischen Motiven bestickte Lederschuhe und den verschnörkelten Spruch: »Willst du jemanden verstehen, laufe einen Mond lang in seinen Mokassins.« Bert drehte die Karte um. In handschriftlichen Druckbuchstaben stand dort: 


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