Die Geschichte einer fabelhaften Idee

Der Tag erlosch schläfrig. In einen dünnen Wolkenumhang gehüllt, versank die mandarinenfarbige Sonne, ohne große Eile und in Begleitung des letzten schimmernden Lichts auf den verschneiten Hängen, hinter den hohen Gipfeln der Weißen Berge. Den ganzen Tag hatte es bis hinunter ins Tal geschneit, und Snörre stapfte auf seinen Schneeschuhen, vor Anstrengung keuchend und Dampfwölkchen ausstoßend, den Flusslauf entlang.
Er musste höllisch aufpassen, dass er nicht an der Uferkante abrutschte und in das noch nicht gänzlich zugefrorene, über dicke Kiesel gurgelnde Gewässer stürzte. Immer wieder machte er Halt, schaute abschätzend in den Wald, der auf dieser Seite dicht wie Besenborsten an das Ufer reichte und markierte dann flink und geschickt diesen oder jenen Baum mit einem Streifen roten Stoffs. Buchen und Hainbuchen, die krumm im Wuchs oder kränklich waren, galt sein fachmännischer Blick heute, denn Snörre war Kohlbrenner und nutzte die frostigen Wintertage, um das Holz zu schlagen, das er im Sommer in seinen Kohlenmeilern verschwelen wollte. Die Köhlerei ernährte ihn gut, aber er lebte auch alleine und war genügsam in seinen Ansprüchen.
Allgemein galten Köhler als verschrobene Typen, die aufgrund ihres einsamen und schmutzigen Handwerks, im Alter wunderlich wurden. Doch Snörre war anders. Genauso wie er sich jeden Tag aufs Neue an den Wundern der Natur erfreute, die schrundige oder wächserne Rindenhaut jedes Baumes und die Unterseite jedes Steins nicht nur kannte, sondern sogar genau wusste, wer oder was darunter wohnte, schätzte er die Geselligkeit und war glücklich über jeden Besucher aus dem Dorf im Tal des Tausend-Lichter-Flusses. Die Dorfbewohner kamen gerne zu ihm. In Snörres Haus bullerte immer ein warmer Ofen, der in einem dickbauchigen Emaillekessel heißes Wasser für Tee oder Punsch bereit hielt. Zudem verstand er sich aufs Jagen und Brotbacken, was ihn ganz oben auf die Wunschliste der idealen Schwiegersöhne setzte, obwohl er mit Mitte vierzig schon als überreif galt. Die Leute im Tal waren durch den Fluss, der seinen Namen dem Glitzern des enthaltenen Goldstaubs verdankte, durch das wertvolle Edelmetall zu Wohlstand gekommen und fast jeder Bewohner war entweder Goldschmied, Schürfer, Händler oder trug anderweitig zu diesen Gewerben bei.
Snörre hatte es eilig und als die Sonne ihre letzten Strahlen hinter sich her gezogen hatte, machte er kehrt. Morgen würde er mit Axt und Schlitten kommen, um die gekennzeichneten Bäume zu holen. Aber jetzt war er von Vorfreude auf den Abend erfüllt, den er gemeinsam mit seinen drei Freunden, Hobart, Snyd und Ruulf, dick in wärmende Felle gehüllt, draußen am offenen Feuer verbringen wollte, wo sie sich dann gegenseitig bei reichlich Speis´ und Trank Geschichten – wie man im Tal sagte – vertellten. Die vier Männer kannten sich seit ihrer gemeinsamen Schulzeit und liebten es schon als Kinder, sich mit ihren fantastischen Erzählungen gegenseitig zu übertrumpfen. Egal ob Wahres, Geflunkertes, Selbsterlebtes, Weitererzähltes, Aufgeblasenes oder Zusammengesponnenes, die Fabulanten genossen das Zuhören genauso, wie das Erzählen. In jeder Vollmondnacht traf sich die kleine Runde zu ihrem Tellehöck – so nannten sie ihr regelmäßiges Beisammensein.
Auf dem Heimweg ging Snörre gedanklich durch, welche Genüsse leiblicher und epischer Natur er heute auftischen wollte, als er am steinigen Ufersaum etwas matt glänzen sah. Ein goldgelber Fleck, der sich nicht in die Umgebung einfügte, hatte sich im dämmrigen Schneegrau verfangen. Vorsichtig, denn nasse Füße und die damit garantiert verbundene Erkältung wollte er tunlichst vermeiden, angelte er mit Hilfe eines langes Aststücks nach dem metallischen Ding, das etwa die Größe und Form einer Glocke oder eines Helmes hatte.
»Hey, ich habe einen Kochtopf gefangen«, sagte er zu sich selber. »Schade, dass nicht noch ein Fischlein darin schwimmt.« Tatsächlich handelte es sich um einen topfartigen Gegenstand, den Snörre eilig hinten an seinem breiten Gürtel befestigte, um ihn zu Hause in Ruhe zu prüfen.
Auch ohne Fisch gab es am Abend dennoch ein vorzügliches Mahl für alle, und die Stimmung wurde immer ausgelassener und heiterer, je mehr Runden warmen Gewürzbiers und heißen Johannisbeerpunschs flossen. Die ersten Geschichten waren schon erzählt und Hobart sollte der Nächste sein. Das offene Feuer flackerte fröhlich und sein Schein traf auf das warme metallische Gelb des Bottichs, den der Köhler achtlos auf einem Stein abgestellt hatte.
»Was hast du denn da für einen herrlichen Goldtopf?«, fragte Ruulf.
»Ach, das Ding hab ich erst vor wenigen Stunden am Fluss entdeckt. Aber aus Gold ist der bestimmt nicht! Ich denke, er ist aus Messing.«
Hobart, ein Goldschmied, stand auf und holte das Gefäß näher ans Feuer, um es sich mit fachmännischem Blick anzuschauen. »Ja, wirst rechthaben, sieht aus wie … Au! …« Ein riesiger Kiefernzapfen war direkt auf Hobarts Glatze gefallen. »… Messing, wollte ich sagen.« Dann grinste er verwegen, als wäre ihm plötzlich etwas Geniales eingefallen, drehte den Topf in seiner Hand und stülpte ihn sich auf den Kopf. »Das sollte mich vor einer neuerlichen Attacke der hinterhältigen Kiefer schützen!« Sein Lachen klackerte wie geschwenkte Murmeln in einem leeren Marmeladenglas.
»Dieser Helm muss reihum gereicht werden«, schlug Ruulf vor. Seine Wangen glühten vor Eifer, vielleicht auch wegen des Feuers oder noch wahrscheinlicher wegen des Bieres. »Wer ihn trägt, ist mit Erzählen dran.«
Hobart nickte beipflichtend. »Am Rand ist sogar eine Prägung. Da steht: DAN K. und darunter ist ein Bild von einem aufgeschlagenen Buch auf der einen …«, er drehte den Behälter, »… und dem, einer Nadel mit Faden auf der anderen Seite.«
»Ein Gussrelief! Wäre das Ding wesentlich kleiner, so könnte man es für einen Fingerhut halten! Vielleicht für einen Schneider«, sagte Snyd.
»Oder einen Buchbinder«, schlug Hobart vor.
Snyd guckte ratlos. »Was ist denn, bitteschön, ein Buchbinder?«
»Mann! Hast du noch nie ein Buch gesehen?«
»Sicher, du Döskopp. Wir waren in derselben Klasse derselben Schule und wir haben alle aus ein und demselben Buch gelernt, du erinnerst dich an das dicke Papierbündel im Pult unseres Tutors? Aber was ein Binder ist, weiß ich nicht.«
Snörre erklärte: »Manche Völker erzählen sich wie wir Geschichten, aber lassen sie dann von Künstlern auf edlen Papierseiten in ihrer schönsten Handschrift aufschreiben und feine Bilder dazu malen, die dann ein Buchbinder zu einem Bündel mit einem Ledereinband zusammen heftet. Es soll sogar schon Maschinen geben, die mehrere Bücher auf einmal schreiben können. Und auf dem Einband steht dann, wie die Geschichte heißt und wer sie erzählt und geschrieben hat. So kann jeder sie jederzeit lesen und einfach weitergeben.«
Snyd schien mit der Antwort zufrieden, wollte aber endlich mehr Geschichten hören. »Selberlesen, pah! Ohne Freunde, Feuer, gutes Essen und Gewürzbier sind Geschichten stocklangweilig!«, sagte er, »Schenk uns lieber noch ´ne Runde ein, Snörre!«
Snörre reichte den Krug herum und Hobart sagte: »Nun gut, dann wird das wohl der Fingerhut eines Riesenbuchbinders sein, oder heißt das dann Buchbinderriese?«
»Glaubt ihr denn nicht, dass wir einen Riesen schon mal gesehen haben müssten? Schließlich wäre er doch … na, eben riesig!«,
»Gewiss, Ruulf! Da hast du wohl recht. Aber jetzt, wo du´s sagst, fällt mir etwas ein. Einen Teil meiner Buchenholzkohle liefere ich regelmäßig ins Urbachtal, jenseits der Weißen Berge. Es ist ein uralter Handel, noch aus der Zeit meines verstorbenen Lehrherrn mit einem Wilden Watz. Einen ganzen Tag und eine Nacht dauert die Anreise dieser wirklich großen Fuhre, die ich dann stets an einer bestimmten Lichtung ablade und wo mich mein Tauschlohn, Felle, Lebensmittel und manchmal auch einige Goldkrümel, schon erwartet. Doch noch nie sah ich den Auftraggeber. Was, wenn diese Watz Riesen sind? Der Urbach mündet in unseren Tausend-Lichter-Fluss und womöglich ist einem von ihnen, diesem Dan K. der Fingerhut in den Bach gefallen und er ist bis zu dem Ort, an dem ich ihn fand, geschwemmt worden. Was meint ihr?«
Snyd nahm einen langen Zug aus seinem Bierbecher und rülpste. »Verzeihung, meine Herren. Ich meine, das ist ein gutes Stöffchen für eine fabelhafte Geschichte. Punkt. Aber mehr nicht, mein Freund! Riesen. Die gibt es nur in unserer Fantasie und da sind sie am allerbesten aufgehoben.«
Nur Ruulf grübelte sichtbar nach. »Also, ich finde die Idee nicht abwegig. Snörre ist am weitesten von uns in der Welt herum gekommen und er berichtet immer, wie unendlich sie sich jenseits unserer Großen Lande erstreckt und von Dingen, von denen wir zuvor keinen blassen Schimmer hatten. Er hat doch sogar die Fips getroffen, die so viel kleiner sind als wir. Warum sollte es nicht auch Geschöpfe geben, die viel größer sind?«
Die Freunde schwiegen einen Moment, bis Snörre erneut eine Runde nachgeschenkt, Feuerholz nachgelegt und sich wieder gesetzt hatte.
»Lasst uns weiter Geschichten hören«, sagte Snyd fröhlich. »Hobart ist dran, er trägt den Pott. Alle sollen ihn heute Abend noch einmal aufsetzen. Dann stellen wir ihn offen hin und jeder wirft zum Abschied ein Scherflein hinein. Nicht viel, nur soviel man geben möchte und Snörre soll künftig als unser Gastgeber stets den gesammelten Inhalt bekommen. Seit Jahr und Tag bewirtet und unterhält er uns auf seine Kosten. Es ist Zeit, etwas zurückzugeben!«
»Katzengold und Modder, nocheins! Ein wahrhaft poetischer Gedanke! Und das ausgerechnet von dir, Snyd!«, rief Ruulf.
Und während alle zustimmend johlten und sich zuprosteten, griff Hobart in seine Wamstasche, holte eine Feile hervor und bearbeitete den Helm im Schoß. Als er ihn wieder aufsetzte, stand dort nicht mehr DAN K., sondern DAN KE.
Snörre war sichtlich gerührt. »Ich danke euch, liebe Freunde! Ihr und eure Geschichten seid mir immer von Herzen willkommen. Ich tausche mit großer Freude eine gute Erzählung gegen Punsch oder Gewürzbier und einen knusprigen Braten, auch ohne gefüllten Pott. Aber ich will gerne eure Groschen sammeln, bis eines Tages soviel zusammengekommen ist, dass ich davon einen Schreiber, dem ich all unsere gemeinsamen Geschichten erzählen will, und vielleicht obendrein noch einen Buchbinder bezahlen kann. So bleiben sie den uns folgenden Generationen erhalten. Ich bin glücklich, Pate dieses neu geschaffenen Brauchs zu sein, der solange Bestand haben soll, bis der Besitzer kommt, dem dieser Pott als Fingerhut passt! Dann kann er ihn meinetwegen auslösen, zum Preis des Buches, versteht sich. Auf unseren Tellepott!« Snörre, Snyd, Ruulf und Hobart sprangen auf und stießen mit ihren irdenen Bechern feierlich darauf an.
»Hört, hört!«
»Auf unseren Tellepott!«
»So soll es sein!«
Hier könnte die Geschichte enden, denn es gingen elf gewöhnliche Monate ins Land, in denen es sich der neue Brauch um den Tellepott am Feuer gemütlich einrichtete. Doch beim zwölften Tellehöck geschah etwas Ungewöhnliches. Der Vollmond mit seinem weißen Wolkenkranz war soeben über den schwarzen Wipfeln des Waldes wie ein Spiegelei in eine gusseiserne Pfanne geflutscht, als Snörre – er hatte den Pott auf dem Kopf – seine Erzählung vortrug. Er legte sich dabei ordentlich ins Zeug, sprach dramatisch mit verschieden verstellten Stimmen und seine Freunde vergaßen vor Erregung, zu essen und zu trinken, und kauten allenfalls an ihren Fingernägeln oder Lippen, denn es handelte sich augenscheinlich um eine sehr spannende Geschichte. Plötzlich, alle hatten kaum zu atmen gewagt, knackte trockenes Holz im Wald hinter ihnen, und ein riesiger Kerl trat mit einem einzigen Schritt neben das Feuer. Die vier Freunde erschraken bis ins Mark und stoben kreischend und blökend wie Schafe auf der Flucht vor dem Wolf auseinander.
Es war ein waschechter Watz, der auf seiner Reise versehentlich weit vom Weg abgekommen war und sich, ohne es zu wissen, im Tal des Tausend-Lichter-Flusses wiedergefunden hatte, wo er auf den winzigen roten Feuerschein aufmerksam wurde. Dort hoffte er auf Rat und Hilfe. Zunächst war er in der Deckung der Bäume geblieben, von wo aus er die vier kleinen Kerle, kaum länger als sein Mittelfinger, bestaunte, die um das spielzeugkleine Lagerfeuerchen herum saßen. Bis er erkannte, was einer von ihnen auf dem Kopf trug. Ja, was zum Teufel … das war sein Fingerhut! Wie verzweifelt er nach ihm gesucht hatte! Vor über einem Jahr hatte er ihn auf dem Weg zur Auslieferung an seinen Kunden am Urbach verloren. Es war eine aufwändige Auftragsarbeit für einen Buchbinder, die er zu nachlässig einfach in der Hosentasche verstaut hatte und die, vermutlich als er sein Taschentuch zum Schnäuzen herauszog, herausgefallen sein musste. Und dieser Winzling trug nun seine Arbeit auf dem Kopf wie einen Helm! Noch während er überlegte, wie er ihn sich zurückholen könnte, lauschte er wie verzaubert den Worten der koboldhaften Gestalt und versank in dieser Erzählung, und als sie zu Ende war, wanderte der Fingerhut weiter auf den Kopf des Nächsten und es folgte eine neue. Diesmal war es ein Liebesgedicht. Oh, wie gerne er diese Verse hörte! Sie klimperten wie Musik in seinen Ohren! Wenn der Winzling doch nur lauter sprechen würde. Er trat ein kleines Stück vor und war im selben Augenblick entdeckt.
»Ich, oh, ich bitte um Verzeihung, ihr kleinen Herren«, tönte es aus der Kehle des Hünen, »ich will euch wirklich keine Angst machen!« Die Tellehöck-Männer hielten sich in ihren Verstecken mit schmerzverzerrten Gesichtern die Ohren zu.
»Dann sprich um des Himmels willen leiser!« Snörre war beherzt aus seiner Deckung hervorgetreten und brüllte zum nächtlichen Gast hinauf. »Und versuche bitte, nicht ins Feuer zu blasen, wenn du atmest. Die Funken entzünden sonst noch meine Hütte.«
»Tut mir ehrlich leid. Ich bin nur zufällig hier, denn ich habe mich verlaufen. Wie heißt der kleine Bach hier?« Der Riese flüsterte und die Lautstärke war nun erträglich.
»Wir nennen ihn den Fluss der tausend Lichter.«
»Ich bin aus dem Urbachtal und muss eine falsche Abzweigung gewählt haben. Und dann fand ich euch und entdeckte dabei soeben meinen Fingerhut wieder!« Bei den letzten Wörtern vergaß er wieder das Flüstern und Snörre zog eine Grimasse. Er nahm den Tellepott ab und hielt ihn hoch über seinen Kopf.
»So, so, dann gehört er dir? Ich fand ihn vor einem Jahr oben am Flussufer. Du kannst ihn wiederhaben, aber zeig´ erst, ob er wirklich passt.«
»Ich glaube kaum, dass er mir passt, denn ich habe ihn für einen Kunden angefertigt, der ihn braucht, um Bücher zu heften. Er heißt Dan Kubainsteyn. Sein Name steht auf dem Fingerhut, oder genauer gesagt, nur ein Teil seines Namens, denn für seinen Fingerhut war er zu lang.« Der Riese bückte sich herunter und nahm den Blechhut. Er drehte ihn und stutzte. »Warum steht da jetzt DAN KE und wo ist mein Punkt?«
»Setz dich zu uns. Die Erklärung benötigt ein wenig Zeit und wir wollen dir gerne alles ganz genau berichten«, lud Snörre ihn ein, und Ruulf, Snyd und Hobart trauten sich ebenfalls vorsichtig näher ans Feuer.
Der Riese hörte geduldig zu, schmunzelte, als allmählich klar wurde, dass er tatsächlich der besagte Wilde Watz war, und er lachte herzhaft, als Hobart ihn auf Knien darum anflehte, den Pott um ihrer Tradition willen behalten zu dürfen.
»Nun, ich habe dem Kunden natürlich damals einen neuen Fingerhut anfertigen müssen, der mir sogar noch eine Idee besser gelungen war und mir gut honoriert wurde. Also habe ich keinen nennenswerten Verlust erlitten und ich könnte ihn euch wohl überlassen.«
Obwohl ihnen der Schreck noch immer in den Knochen saß, freuten sich die Männer. Hobart holte eine große Waschschüssel, füllte sie randvoll mit Gewürzbier und reichte sie dem Riesen. »Dann lass uns darauf anstoßen!«
»Einen Moment noch! Ihr sagt, ihr trefft euch hier einmal zu jedem vollen Mond, um zu vertellen, wie ihr das Erzählen nennt. Das gefällt mir, denn ich mag Geschichten. Wenn ich euch hin und wieder dabei Gesellschaft leisten darf, wenn ich in der Gegend zu tun habe, würde ich als Gegenleistung einige eurer Erzählungen einem Freund weitergeben, der sie niederschreiben kann. Und eure gesammelten Pottgroschen würde ich in unsere Währung umtauschen, damit wir den Buchbinder beauftragen können, sie zu binden. Vielleicht reicht es sogar für zwei Ausgaben – eine kleine für euch, eine große für uns. Wie wäre das?«
»Wir wären dumm, deinen überaus freundlichen Vorschlag abzulehnen! Du bist natürlich jederzeit ein gern gesehener Gast, sofern du bei uns schön achtsam läufst und gut schaust, wo du hintrittst. Vielleicht bringst ja auch du eines Tages eine Geschichte für uns mit?«
»Besser nicht! Ich bin besser im Zuhören als im Erzählen. Aus gutem Grund passt mir euer Tellepott nicht, aber ich werfe mit Freude etwas hinein!« Er holte einige Goldkrümel aus seiner Jackentasche und warf sie in den Fingerhut. »Für eure Tiny Tall Tales!« In dieser Nacht wurde noch viel vertellt, gelacht und die neue Freundschaft ausgiebig mit Gebratenem, Gebackenem und Vergorenem gefeiert.
Nun wollt Ihr vermutlich wissen, woher ich das alles weiß? Aus den Aufzeichnungen meines Urgroßvaters, dessen Vater Gelbgießer und Fingerhüter im Urbachtal gewesen war und in einer Winternacht, versteckt hinter einer Schwarzkiefer, Geschichten gelauscht und Freunde gefunden hatte.

© Inhalt urheberrechtlich geschützt – H. M. Kaufman 14.01.2021
(Titelfoto, verfremdet: Pixabay – vielen Dank!)