Wie der Tod ein Leben rettete

Halloween-Kurzgeschichte (ab 12 J.)

Es regnet Bindfäden, hätte meine Mutter gesagt, wäre sie dabei gewesen. Aber sie war zu Hause in der Küche, schnippelte Gemüse für das Abendessen und hatte nicht den blassesten Schimmer von dem, was sich an diesem letzten Oktoberabend zusammenbraute. 

Die Regentropfen reihten sich tatsächlich so dicht hintereinander, dass sie im Schein der Straßenlaterne wie silbrige Fäden glitzerten. Als ich mich mit meinem Freund Luke dem vereinbarten Treffpunkt näherte, sah es aus, als hingen an manchen Schnüren drei zappelnde Marionetten. An der letzten Laterne vor der Unterführung wollten wir uns treffen. Martin mit seiner jüngeren Schwester Henny und Paul warteten schon ungeduldig auf uns, obwohl die Kirchturmuhr noch nicht mit dem abendlichen Sechsuhrläuten begonnen hatte. Die Köpfe zum Schutz vor der Nässe gesenkt und tief in Kapuzen versunken, scharrten ihre Füßen ungeduldig über das Pflaster oder kickten gelangweilt Steinchen. Bis auf Henny besuchten wir alle die sechste Klasse derselben Schule. 

»Mann, wo bleibt ihr denn, ihr lahmen Enten«, maulte Martin, »wir sind inzwischen komplett durchgeweicht.«

Ich zuckte nur mit den Schultern, aber Luke entschuldigte sich. »Lag nicht an mir! Der Heuler kam nich´ in die Pötte!«

Allgemeines Gestöhne.

Heuler, das war ich. Als meine Familie im Sommer in dieses Kaff gezogen war, dauerte es nur einen einzigen Schultag, um mir diesen Hassnamen, der fortan wie ein Stachel in meinem Fleisch saß, anzuhängen. Die zwölf Jahre davor und natürlich zu Hause, nannte man mich Jakob. Noch vor Beginn der ersten Unterrichtsstunde hatten sie mich zum Flennen gebracht, einmal vor Wut und einmal vor Schmerz. Und als die Klassenlehrerin mich dann später, sie schmunzelte dabei, mit meinem Nachnamen Robben, vorstellte, brüllte irgendjemand: »Ey, ein echter Heuler!« Ja, da war es geritzt. Heuler. Passte. Ein Name, bei dem man heulen mochte. Aber heute wollte ich ihn ein für alle Mal loswerden. Nur deshalb hatten wir uns alle daheim mit einer Lüge davongestohlen und waren bei diesem Schietwetter unterwegs.

Die Unterführung war ein kastiger Betontunnel, der unter der Bundesstraße hindurch führte, die den kleinen Ort in zwei Teile zerschnitt. Luke und ich wohnten im Neubaugebiet auf der Westseite, die anderen auf der Ostseite, der Altstadt. Martin, Henny und Paul kannten sich schon ewig, aber Luke, der im selben Haus wohnte, in das auch wir gerade eingezogen waren, war noch nicht lange mit ihnen befreundet. Dennoch spielte er sich auf, weil er hoffte, dass ich bald die Position des Neulings einnahm und er nicht mehr der letzte Vollpfosten war.

»Alles klaro?«, fragte mich Martin. »Haste alte Klamotten an und Turnschuhe? Is schließlich kein Kindergeburtstag!« Paul und Luke kicherten verschwörerisch, während ich nur wieder wie ein Wackeldackel nickte.

Kaum betraten wir den Tunnel, begannen die Kirchenglocken zu läuten. Für uns Kinder üblicherweise das Signal zum Aufbruch nach dem Spiel bei Freunden oder draußen, weil es wirklich überall im Städtchen zu hören war. Meiner Mutter hatte ich erzählt, ich würde bei Luke übernachten. Sie freute sich darüber. »Siehste«, hatte sie gesagt, »Kinder finden immer schnell Anschluss.«

Wortlos stapften wir durch die Unterführung. Ein unheimlicher Ort mit verdreckten Neonleuchten unter der Decke und einem beißenden Uringestank. In diesem Moment schätzte ich die Gesellschaft, in der ich mich befand, auch wenn mich unsere Mission ängstigte. Wieder an der frischen Luft, bemerkte ich, dass der Regen aufgehört hatte, es aber wegen der dichten Wolken schon recht dunkel war. Darauf waren wir natürlich vorbereitet und wir zogen unsere Taschenlampen aus der Tasche.

»Aber nicht alle anmachen«, bestimmte Henny, »dann reichen sie länger.« Waren wir wie die fünf Finger einer Hand, so war Martin der Bossdaumen und seine Schwester der Zeigefinger. Sie war auf verdrehte Weise der coolste Junge von uns. Paul fiel schon aufgrund seiner Länge, er war fast einen Kopf größer als wir anderen, die Rolle des Mittelfingers zu und Luke jetzt die, des zweitkleinsten, des Ringfingers. Ich zog buchstäblich den Kürzesten, aber vielleicht würde sich das nach diesem Abend ändern.

»Haste schon Schiss?« Luke, der neben mir lief, weil wir uns seine Taschenlampe teilten, leuchtete mir mitten ins Gesicht.

»Lass den Quatsch«, brummte ich. »Bisschen flau, geht schon.«

»Ist auch ganz schön knifflig bei dem Wetter. Ich glaube nicht, dass ich mich das trauen würde.«

»Er muss ja nicht!«, sagte Martin, der neben seiner Schwester voranging.

»Wenn er den Heuler loswerden will, dann schon.« Henny brachte es, wie immer, auf den Punkt.

Ich freute mich trotzdem über Lukes Anerkennung. Schließlich ging es genau darum! Um den fiesen Spitznamen loszuwerden, musste ich etwas tun, damit man mich respektieren konnte. Martin hatte dann vorgeschlagen, allen zu beweisen, dass ich kein Heuler war, und ich habe Tage damit verbracht, mir etwas auszudenken. Vorgestern, kurz nachdem ich auf dem Schulhof wieder richtig durch den Kakao gezogen wurde und alle vor Lachen grölten, verkündete ich meine Mutprobe, eher eine Wutprobe, so geladen wie ich war!

💀💀💀

Das Kaff hatte tatsächlich ein Highlight: Es lag zu Füßen eines kleinen Berges, auf dessen Gipfel die kümmerlichen Reste einer Burg aus dem dreizehnten Jahrhundert thronten. Das klang spektakulärer, als es wirklich aussah, denn es standen lediglich noch die vier Grundmauern des Palas, dem Teil, in dem die Burgfräulein und die Herrschaft gewohnt und getafelt haben, ohne Zwischendecken und ohne Dach. Ein steinerner Schuhkarton ohne Deckel!

Weil viele bessere Ideen meist an fehlendem Geld scheiterten, hatte man vor einigen Jahren entlang der Wände zumindest eine Metalltreppe verbaut, auf der man eine kleine Plattform erreichen konnte, um auf Höhe der Mauerbrüstung den Ort zu überblicken. Und damit Menschen wie wir nicht auf duselige Ideen kommen, hatte man ein Absperrgitter angebracht, um das Betreten der Mauerkrone zu unterbinden.

Nur noch wenige Meter trennten uns von dem mittelalterlichen Gemäuer, nachdem wir den steilen, aber kurzen Aufstieg über die dicht bewaldete Flanke des Vestebergs, bewältigt hatten. Wir schnauften wie alte Dampfloks und allmählich begann es in meinem Bauch zu grummeln. Da musst du durch, dachte ich, lieber einmal leiden und dann Ruhe, als ewiges Ausgelachtwerden.

Die Dunkelheit milderte die furchterregende Höhe der senkrecht aufsteigenden meterdicken Mauern. Wir richteten unsere Taschenlampen nach oben, aber ihr Schein erreichte das Ende nicht. Schweigend, fast ehrfürchtig betraten wir das Innere. Der Treppenverlauf hatte nur eine geringe Steigung, weil er über drei Seiten verlief. So war es möglich gewesen, auch gerade Teilstücke einzufügen. Ein Käuzchen rief und ich musste widersinnigerweise lachen.

»Das ist wie in einer Gruselgeschichte: Fünf Freunde, ein Berg mit einer Burgruine. Es ist stockfinster – ein Käuzchen schreit wie eine gemeuchelte Frau.« Plötzlich konnte ich überhaupt nicht mehr aufhören zu lachen und steckte die anderen, die zunächst noch mit Trauermienen dastanden, an.

»Hier«, sagte Paul dann und drückte mir etwas Knisterndes in die Hand, »kleine Stärkung für die Nerven.«

»Danke!« Ich japste nach Luft und nahm den zerknautschten Schokoriegel entgegen, steckte ihn aber in meine Jackentasche. Hätte ich ihn jetzt gegessen, hätte ich ihn wahrscheinlich umgehend wieder ausgespuckt, denn mir war vor Angst inzwischen speiübel. Der Aufstieg über die Treppe zog sich wie ein Hosengummi und ich spürte das Ziehen in den Oberschenkeln, doch endlich waren wir oben. Wir standen auf der letzten, der Aussichtsplattform. Zu unseren Füßen lag feierabendmüde das spärlich beleuchtete Örtchen, über uns der grauschwarz gescheckter Himmel. Martin und Paul leuchteten nach unten in Richtung des Burgtores, durch das wir gerade gekommen waren, aber auch hier erreichte das Licht nicht den Boden. 

»Vielleicht besser so.« Paul hatte recht. Was man nicht sah, musste man nicht fürchten. Vielleicht war die Fantasie aber schlimmer? Martin sah alles andere als zufrieden aus, und Henny schüttelte leicht den Kopf hin und her. Sie sagte: »Vielleicht lässt du es lieber, Jakob. Das ist es nicht wert.«

»Keiner von uns sagt was, wenn du es nicht durchziehst, ehrlich!« 

»Das stimmt leider nicht, Luke«, sagte ich und wünschte, es wäre anders. »Die in der Schule werden es erfahren. Ich will das nicht machen, aber ich muss. Der  Heuler muss für immer hier oben bleiben!«

Jetzt holte ich meine Taschenlampe aus der Jackentasche und band sie mit der Schlaufe fest um mein Handgelenk, zog die Jacke aus und hängte sie ordentlich über den Handlauf des Geländers. Das Rumpeln im Magen wurde lästig und ehe es sich noch weiter ausbreiten konnte, griff ich entschlossen nach dem Absperrgitter, zog mich die Brüstung hoch, wobei ich erst um das Gitter herum klettern musste, und setzte erst einen, dann beide Füße auf die Mauerkrone. Sie war sehr breit, aber uneben und an manchen Stellen gefährlich glitschig durch nasses Moos. Die Herausforderung bestand weniger im Balanceakt, sondern im Aushalten der Gewissheit, dass es rechts und links vier hohe Stockwerke in die Tiefe ging. Wäre das Wetter trocken gewesen, hätte ich die Burgmauer einmal umrunden wollen, aber ich war mir sicher, eine Seite, eine Drehung und wieder zurück, würde ausreichen, um mir Mut zu attestieren. Zumal das flaue Gefühl jetzt allmählich vom Magen aufwärts in meinen Kopf wanderte. Ich schwankte leicht.

»Bitte, Jakob, hör auf mit dem Quatsch«, bettelte Henny jetzt, »ich hab kein gutes Gefühl!« Luke pflichtete ihr bei und sogar Martin und Paul baten mich inständig, auf die Plattform zurückzukommen. Vermutlich war ich schon weiter gegangen, als sie mir zugetraut hatten.

»Es geht nicht.« Das war meine Antwort. Ich knipste die Taschenlampe an, löste meine schweißnassen Hände vom Absperrgitter und tastete mich zaghaft die Mauerkrone entlang, indem ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte. Alles konnte gut gehen, solange ich nur nicht stolperte. Ich konzentrierte meinen Blick auf den Schein der Lampe vor meinen Füßen und versuchte den Gedanken an die Höhe zu verscheuchen. Das Käuzchen schrie wieder, aber diesmal war mir nicht nach Lachen zumute. Zu gerne hätte ich gewusst, wie weit es noch bis zur Ecke war, aber mir fehlte der Mut, meine Taschenlampe so weit nach vorne zu richten. Einmal hörte ich Henny noch hysterisch rufen, ich sollte endlich umkehren, es wäre wirklich genug jetzt und ich sei komplett irre, aber dann verstummten alle. 

Plötzlich hörte ich Getrappel auf der Metalltreppe. Sie hauten doch jetzt nicht etwa ab, oder? Die lassen mich einfach hier oben alleine zurück, schoss es mir heiß wie Lava durch die Adern! 

»Hallo?« Mein Ruf war zu kläglich, um gehört zu werden, aber ich traute mich nicht, kraftvoller zu schreien. »Seid ihr noch da?« Ich lauschte, aber außer den verhallenden Trittgeräuschen und leisem Zurufen, hörte ich nichts. »Ihr seid so erbärmlich feige Knallschoten! Ihr blöden Evolutionsbremsen! Ich hasse euch!« Nie zuvor und auch später nie wieder in meinem Leben, hatte ich mich dermaßen verlassen und elend gefühlt. Ich versuchte eine Drehung ohne vor Schwindel zu straucheln, um zurück zur Plattform zu gelangen. Tränen der Wut und Verzweiflung nässten zusammen mit dem erneut eingesetzten Regen mein Gesicht. Ich bleibe der Heuler, dachte ich resigniert, sank schließlich auf meine Hände und Knie und setzte mich vorsichtig auf die Mauer, weil ich weder stehen und erst recht nicht mehr laufen konnte. Ich hatte keine Vorstellung, wie ich mich aus dieser Lage selbst befreien sollte und je länger ich da oben saß, desto mehr füllte sich mein Inneres mit einem dunklen, mächtigen Gefühl. Es wuchs und wuchs und raunte einschmeichelnd: Lass dich doch einfach fallen. Geschieht ihnen doch recht, wenn sie die Schuldgefühle nie mehr loswerden. Schert sowieso niemanden, ob der Heuler tot ist oder nicht. Es geht sicher ganz schnell – nur zur Seite rutschen und schon … vorbei. Mein Kopf wurde zu einem mit Helium gefüllten Ballon. 

💀💀💀

Das Käuzchen schrie erneut, jedoch entfernter und der sanfte Landregen pladderte hypnotisierend auf das Blattwerk des Efeus, der die Burgecke umrankte. … Aber da waren auch Schritte auf der Metalltreppe oder drehte ich langsam durch?  

Klonk … klonk … klonk …

Nicht hektisch, aber zügig, rhythmisch und leichtfüßig. Jetzt erst bemerkte ich, dass ich absolut bewegungsunfähig war. Die winzigste Bewegung meiner Hand oder das Zucken eines Beines löste sofort einen Panikwelle aus. 

Klonk … klonk … klonk … 

Von meiner Position aus konnte ich die Treppe nicht sehen und wer immer sich da näherte, falls überhaupt jemand kam und nicht meine Fantasie Regie führte, würde auch mich nicht sehen können. Ich lauschte angestrengt. Kein weiteres klonk!

»Jakob?« Die Stimme war brüchig und schwankte in der Tonlage, aber es war die eines Jungen. »Jakob! Bist du hier? Sag´ was!«

Ich schluckte den dicken Kloß im Hals hinunter und antwortete dünn: »Ja, hier. Hier oben.«

»Siehst du mich?« Die Stimme hatte einen leichten Akzent.

»Nein. Ich … ich kann mich nicht rühren.«

»Was willst du rühren?«

»Ich will nichts rühren! Ich kann mich nicht … bewegen. Ich habe Angst abzustürzen!«

»Okay«, sagte die kratzige Stimme und dehnte das Wort dabei auf doppelte Länge, »das ist nicht gut, aber auch nicht schlimm. Ich kann helfen!«

»Aber wie?«

»Du hast sicher eine Torch, ähm … eine Lampentasche, leuchte mal in Richtung des Innenhofs – nicht bewegen, nur leuchten.«

Wegen der Aufregung und Anspannung und auch wegen der Kälte schlotterte ich, musste aber wegen des Versprechers unwillkürlich grinsen. Ich tat, was die Stimme sagte.

»Ja, all right, ich sehe. Das ist gut – sogar sehr gut!«

Diese Ansicht teilte ich nicht, aber ich fühlte mich dennoch erleichtert, einfach weil jemand bei mir war. Ich hörte nun wieder ein paar klonk … klonk, nun so nahe, als stünde jemand genau unter mir.

»Pass auf, Jakob. Wir machen jetzt eine ganz verrückte Sache, okay?« Verrückt klingt absolut nicht okay, dachte ich und stimmte nur zögerlich zu. »Du musst keine Angst haben. Ich bin hier ganz nah.«

»Ja, ich höre dich.«

»Prima! Ich vermute, du sitzt auf die Mauer?«

»Ja.«

»Na, schön. Guckst du in Richtung Plattform oder in die andere Richtung?«

»Ich gucke gerade gar nicht.« Leises Lachen unter mir.

»Und wenn du gucken würdest?«

»Dann sähe ich die Plattform.«

»Super. Du machst jetzt genau, was ich sage, dann bist du in einer halben Stunde wieder zu Hause und hast was zu erzählen.«

Jetzt sagte ich: »Gut, mach ich. Aber das hier … darf niemand, wirklich NIEMAND erfahren!«

»Reißverschluss-Mund! Aber erst müssen wir dir runterholen. Du rutschst jetzt ganz vorsichtig auf deinem Stern auf mir zu und hängst deine Beine über der Kante von die Mauer. Langsam. Es kann dich nichts passieren. Take care.« 

An der Zunahme des Akzents und der englischen Wörter, erkannte ich seine wachsende Nervosität. Es kostete mich schrecklich viel Überwindung, meinen Hintern ein bisschen hochzustemmen und ihn allmählich in die gewünschte Richtung zu manövrieren, doch ganz sachte gelang es mir. Allerdings dachte ich mit Sorge daran, dass es auf der Hofseite ebenso tief hinunter ging und nur irgendwo der Treppenaufgang entlang führte. Doch wo genau und in welcher Tiefe – das konnte ich weder wissen noch sehen. Aber wer immer mir diese Anweisungen gab, ich vertraute ihm. Ich musste ihm vertrauen!

»Du machst das sehr gut, Jakob. Jetzt nur noch ganz behutsam und vorsichtig die Füße nach vorne bringen. Versuch unter keinen Umständen, zu mich runter zu schauen. Erschrick nicht, ich leuchte jetzt mal mit meiner Torch zu dich hoch, weil ich wissen muss, wo du genau sitzt.« 

Ein Lichtstrahl schnitt durch die Dunkelheit und in seinem Kegel sah ich wieder die Bindfäden des Regens, die jetzt schräg fielen. Ein leichter Wind hatte aufgefrischt und ich fror erbärmlich. Flüsternd jammerte ich nach meiner Mutter und betete, es möge bald vorüber sein. In diesem Augenblick hätte ich alles versprochen, alles getan, um wieder nach Hause zu kommen!

»So, du Luftakrobat«, rief die Stimme, »jetzt wird es ernst. Streng dir an, dann wird alles gut! Ich stehe genau unter dich und du wirst dir jetzt ganz langsam, eng an der Mauer entlang, abrutschen lassen. Vertrau mir, es sind nur etwa neun feet, o, ich meine Füße.«

Ich traute meinen Ohren nicht! Ich sollte mich in die ungewisse Dunkelheit fallen lassen? Und von welchen Füßen redete er bloß? Hatte der Typ sie noch alle? »Bist du bekloppt?«, fragte ich. »Das schaffe ich niemals!«

»Natch! Wer da oben bei Nacht und Regen rumspazieren kann, für den ist das – wie sagt ihr hier – ein Klecks!«

»Klacks.«

»What

»Ach, schon gut.«

»Gut? Okay, also dann, here we go! Geh es vorsichtig an, lass dich einfach … gleiten. Die Mauer wird dich bremsen, wenn du dir dicht an ihr hältst, und ich stoppe deinen Schwung hier unten!«

Irgendwo im Dunkel der Nacht zuckte regelmäßig ein blauer Schein. Der Moment war gekommen, in dem ich spürte, wie sich ein Schalter in mir umlegte. Länger konnte ich die Situation einfach nicht aushalten und ich rutschte mit geschlossenen Augen Zentimeter für Zentimeter näher an die Kante und als mein Gewicht begann, mich unweigerlich in die Tiefe zu ziehen, tauschten mein Gehirn und meine Eingeweide die Plätze und ich schrie meine Not wie das Käuzchen in die Nacht hinaus. Mit dem Rücken an der rauen Mauer entlang schrammend, landete ich hart, aber lebend! Als ich die Augen öffnete, beugte sich gerade ein schwarzer Schatten über mich. Kobaltblaue Blitze ließen ihn gespenstisch aufleuchten und als ich ihn erkannte, schrie ich erneut – diesmal vor nacktem Entsetzen! Ich war ihm keineswegs entgangen, sondern war direkt in seine Arme gestürzt. Es war die knochige Fratze des Todes, die mich anstarrte, und ich fiel weiter in die Dunkelheit.

💀💀💀

Zu meiner Überraschung erwachte ich in einem nach frischer Wäsche duftenden Krankenhausbett. Statt Angst empfand ich eine fast behagliche und sichere Wohligkeit. Mein Schädel brummte, aber aushaltbar. Genauso wie der brennende Schmerz entlang meiner aufgeschürften Wirbelsäule. Dass ich überhaupt etwas spürte, war ein Grund zum Feiern, ich lebte also noch! Kurz darauf ging der Rummel los. Ärzte, Schwestern, meine Eltern und, ich staunte nicht schlecht, sogar die feigen Schisser gaben sich die Klinke in die Hand und ich erfuhr endlich, was nach meinem Absturz geschah. 

Martin, Henny, Paul und Luke brauchten etliche Anläufe, um sich stotternd zu entschuldigen, und ausgerechnet Martin zerdrückte sogar ein paar Reuetränen. Sie waren in Panik geraten, weil sie sicher waren, dass die Sache nicht gut ausgehen konnte. Lukes Vater bekam Wind von der Sache und rief die Polizei an, die dann sofort mit Notarzt und Blaulicht ausrückte. Von meinen Eltern erfuhr ich, dass sie einerseits unglaublich froh über den glimpflichen Ausgang meiner, wie sie ständig betonten, saublöden Mutprobe, andererseits aber auch stocksauer über diese Aktion waren, und dass ich noch mit einem polizeilichen Nachspiel rechnen musste, sobald ich wieder auf dem Damm war. Viel wichtiger war mir allerdings die Information über meinen Retter! 

Es handelte sich um einen dreizehnjährigen Jungen aus unserem Ort, der erst kürzlich mit seiner Mutter aus England zurück in ihre alte Heimat gekommen war. Sie war frisch geschieden von seinem Vater, dem Kapitän eines Containerschiffs, der angeblich so gut wie nie zu Hause sein konnte. Der Junge litt unter dem Verlust seines vertrauten Lebens. An diesem Abend hatte er sich in seinem Skelettkostüm aus dem Haus geschlichen, war uns Kindern heimlich gefolgt und wurde so Zeuge der Ereignisse. Er lief aber nicht fort, sondern half, ohne über die Gefahr für ihn und mich nachzudenken. Tatsächlich hatte er mich wie eine lebende Sprungmatte abgefangen und wir waren beide auf der von oben vorletzten Plattform zwischen den Treppen zusammengeknallt. Dabei hatte er sich den Arm gebrochen und ich mir eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen. Warum er sich denn als Skelett, als Gevatter Tod, verkleidet hatte, fragte ich. Ja, es sei doch Halloween gewesen und der Junge, dessen Namen sie nicht einmal wussten, beschwor mit seiner Verkleidung an diesem Abend die Erinnerung an den englischen Brauch herauf, den er früher zusammen mit seinen Freunden an diesem Abend beging, indem sie verkleidet von Haus zu Haus zogen, um Süßigkeiten zu erbetteln. 

So verdankte ich dem Tod mein Leben!

Nach ein paar Tagen Bettruhe musste ich wieder in die Schule und mir schwante nichts Gutes. Sicher würde man mich auslachen, weil ich etwas so Idiotisches getan hatte, dass mich noch heute, dreißig Jahre danach, eisige Schauer bei der Erinnerung daran überlaufen. Doch niemand lachte. Niemand schimpfte mich Heuler, nicht an diesem und auch an keinem anderen Tag mehr. In der großen Pause stand ich in einer windgeschützten Ecke des Schulhofs und nagte appetitlos an meinem Salamibrot, als ein älterer Junge auf mich zukam. Er war komplett schwarz gekleidet. Schwarze Jeans und Boots, schwarze Wolljacke und ein schwarzes Basecap unter dem ein paar rotblonde Haarsträhnen hervorlugten, 

»Jakob?«

»Wer will das wissen?«, fragte ich alarmiert. Die älteren Schüler stänkerten gerne und ich machte mich auf Ärger gefasst.

»Schön, dich bei Tageslicht zu sehen!« Er grinste. Ein seltsamer Kontrast zu seinen düsteren Klamotten und da dämmerte es mir. Erst jetzt bemerkte seinen eingegipsten Arm.

»Du bist … Mann, ich weiß nicht mal, wie du heißt!«

»Jake. Fast wie Jakob.«

»Ja, tatsächlich. Ich muss mich bei dir bedanken, Jake. Wenn du nicht … – Wie geht es deinem Arm?«

»Kein Ding. Ist nur ein Klecks.«

»Klacks«, lachte ich, »ein Klacks!« 


© Inhalt urheberrechtlich geschützt – H. M. Kaufmann 31.10.2020