Beschreibung eines verlassenen Ortes

Frostige Böen jammern mit Orkanstärke über die vergletscherte Bergkette der Nordinsel. Kahl gefegter Fels verwischt zu flackernden, grauen Flecken inmitten eines Schneesturms, der den Orientierungssinn wie ein Halluzinogen verwirrt. Eiskristalle in der Luft beißen ohne Gnade in jeden Quadratzentimeter ungeschützter Haut.
Nur zufällig findet die norwegische Crew eines Walfängers in dieser menschenfeindlichen Ödnis die Überreste eines behelfsmäßigen Winterhauses. Aus dem Anblick dieser, wie sich später herausstellen wird, 300 Jahre alten Trümmer und der im ewigen Eis konservierten Habseligkeiten entstehen in der Fantasie der Seeleute die dramatischen Bilder des vergangenen Kampfes, in dem der Gegner unbarmherziger und gewalttätiger nicht gewesen sein könnte. Die Natur!
In der in aller Eile aus Treibholz und Schiffsplanken gezimmerten Schutzhütte war es beinahe so kalt wie draußen. Lediglich der Sturm ärgerte sich maßlos darüber, dass er nicht ungehinderten Zutritt erhielt. Er rüttelte an den Wänden und stach seine zugigen Finger in jede Ritze. Der rechteckige Raum maß etwa zehn Meter mal neun Meter und war fensterlos. Der Eingang war seitlich und zum Schutz separiert. In der Mitte befand sich die Feuerstelle mit dürren, ewig hungrigen Flammen, über denen ständig ein Kochtopf mit Wasser baumelte. Schwarzer, giftiger Rauch zog unablässig durch den darüberliegenden Schlot ab und wurde draußen sofort vom wütenden Sturm in Fetzen gerissen.
Der Sockel wies die typischen Eckverbindungen von Blockhütten auf, für die oberen Teile der Wände und für das Dach hatten die Männer Pinienplanken auf eine Rahmenkonstruktion genagelt. Obwohl fast sämtliche losen Teile eines ganzen Schiffes verheizt wurden, reichte die Hitze nicht annähernd aus, um die gestrandeten Holländer zu wärmen. Kondenswasser gefror zu gläsernen Stalaktiten an den Innenseiten der Hütte, deren Fugen mit Stofffetzen und Segelresten notdürftig abgedichtet wurden.
Lethargisch verbrachten sie Stunde um Stunde, Tag für Tag, Wochen, ja, Monate in einfachen Holzgestellen, die Kopf an Fuß aneinandergereiht wie eine Kette an der Wand entlang liefen – nur eingehüllt in die spärliche Kleidung ihrer Zeit, ein paar grob gewebte Decken und die wenige Felle erlegter Tiere. Mit der Leichtigkeit eines gigantischen Nussknackers hatte das Nordmeereis ihr Schiff zerquetscht und ihnen außer wenigen Dingen nur den unbedingten Willen zum Überleben gelassen. Der Proviant, zumeist Pökelfleisch aus den geborgenen Fässern, musste rationiert werden. Frischfleisch erlegter Polarfüchse war rar. Sie alle waren ausgezehrt, krank oder verletzt durch Überfälle ebenso hungriger Eisbären. Zum Leben hatten sie zu wenig, zum Sterben zu viel. Was nutzten das Buch über Navigation oder das über China, das Land, das sie auf kürzestem Wege erreichen wollten, die kleine Flöte, eine Uhr? Sie hatten Talglichter, einige Gewehre und Kugeln, Schwerter, Lanzen und Hellebarden gerettet, doch ihr Feind war gegen diese lächerlichen Waffen immun. Auch konnten sie sich mit ihren bis hierher gehüteten Münzen nicht freikaufen.
Aber sie hielten durch. Unvorstellbare neun Monate im arktischen Winter ohne Sonne, denn selbst sie erträgt die Einsamkeit und die Kälte des östlichsten Punktes Europas auf der sichelförmigen Doppelinsel Novaja Semlja nicht. Als sie im Frühling 1597 erstmals wieder schüchtern über den Horizont blinzelte, wagten sich die Männer mit diesem hellen Funken Hoffnung zurück auf das offene Meer. In zwei zusammengeflickten Ruderbooten und nach unmenschlichen Strapazen erreichen zwölf Überlebende dieser Expedition ihre Heimat.
Willem Barentsz wollte mit seiner Crew die Nordostpassage, eine Handelsroute nach Asien finden. Er selbst fand auf unbekanntem Boden seinen Tod.
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Verfremdetes Titelfoto von Gerhard Zinn auf Pixapay – vielen Dank!
