Novembermood
In zwei Lebensphasen scheint das Messen des Alters in Jahren eine besondere Bedeutung für Menschen zu haben. Das ist zum einen die Kindheit und Jugend, weil die Entwicklung in dieser Zeit eng an das Lebensalter gebunden ist. Ein zweijähriges Kind hat in der Regel noch nicht die Reife eines Schulkindes oder eines in der Pubertät befindlichen oder gar die eines älteren Jugendlichen. CHECK!
Irgendwo zwischen 18 und 58 Jahren sind wir einfach junge, mittelalte oder ältere Erwachsene, denen aber keine altersspezifischen Eigenschaften zugesprochen werden, was ihre Energie, ihre Aktivität, ihre Leistungsfähigkeit oder ihre intellektuelle und psychische Entwicklung betrifft. Dieser Abschnitt ist der längste, unkomplizierteste und beliebteste. CHECK!
Ab einer schwammig definierten Grenze, die oft mit dem Eintritt ins Rentenalter, dem Status Großeltern zu sein (ungeachtet sehr junger Ausnahmen), oder lediglich mit der inflationär steigenden Zahl der Falten und grauen Haare einhergeht, erreichen wir den letzten Lebensabschnitt. Dieser ist nicht nur durch allmählich einsetzenden körperlichen oder geistigen Abbau gekennzeichnet, sondern, und das wiegt deutlich schwerer, durch Ausgrenzung in der Gesellschaft. CHECK!
Wer sich wie ich in dieser finalen Phase befindet, dem fällt die oben abgebildete und paradox anmutende Annonce, die ich in einem regionalen Käseblättchen entdeckte, sofort ins Auge. Sie trifft in aller Schlichtheit den wahren wunden Punkt. Leser fragen sich sofort, wie man eine „junge Seniorin“ sein kann. Oder man fragt sich, warum das Alter überhaupt eine Rolle spielt, wenn man eine Wohnung sucht. Hat man nur bis zum Eintritt ins Rentenalter ein Anrecht auf Wohnraum? Zählt Rentenzahlung mehr oder weniger als Lohn und Gehalt? Oder hat die vermietende Partei Angst, die Treppen- oder Bürgersteigreinigung könnte nicht erledigt werden oder schlimmer noch, die Mieterin, der Mieter könnte schneller ‚hinfällig‘ werden? Vielleicht ist es die Angst, statt Fahrrad oder Kinderwagen könnte ein Rollator im Hausflur stehen. Wie abturnend ist das denn!
Was für grauenvolle Vorurteile haben wir inzwischen über einen Lebensabschnitt gezüchtet, den wir andererseits alle anstreben? Wir wollen doch alt werden. Doch erst wenn es so weit ist, erlebt man, was es heißt, ausgemustert zu sein. Allenfalls gut für zweifelhafte Witzchen über Gehhilfen, Inkontinenz, Altersstarrsinn oder dementielles Vergessen. Im günstigsten Fall gefragt als Ersatz für geschlossene oder überlastete Kitas und ausgebrannte Eltern. Steckt hinter der fehlenden Wahrnehmung für das Alter der panikerfüllte Gedanke, sich nicht mit Menschen abzugeben, deren Sanduhr von Zukunft zu Hoffnungslosigkeit durchgelaufen ist?
In der Werbung werden Seniorenwünsche reduziert auf die Bereiche Gesundheit, finanzielle Absicherungen, der richtigen Seniorenresidenz und Pflege-, bzw. Sterbevorsorge. Autos, Mode, Technik und Medien und viele andere hippe Märkte sind jungen Menschen vorbehalten, bei denen Hoffnung auf Zukunft besteht und denen man durch den Erwerb der richtigen Konsumgüter lange Zeit den Gedanken an die eigene Endlichkeit verdrängen oder versüßen hilft.
Die unangenehmste Ausgrenzung ist eine schleichende. Altern ist ein Mutationsprozess, in dem sich der Mensch von selbstbestimmt, kreativ und ernstgenommen in die Form eines Wesens morphen lässt, dem niemand mehr etwas zutraut, und dem man jeden Tag respektlos vor Augen führt, dass er eigentlich nur noch gesellschaftlicher Ballast ist. Bezogen auf das Schreiben, einem Thema, das mich besonders interessiert, lese ich von Verlagen oder Schreibwettbewerben, bei denen vorwiegend junge Stimmen gehört werden wollen. Ja, ältere Autoren könnten plötzlich versterben und, einmal am Buchmarkt eingeführt, nur für eine Eintagsfliege gut gewesen sein. Ich kenne etliche Reihen von etablierten Autoren, die wie geschnitten Brot laufen, doch nur weil sie wie ein Uhrwerk liefern. Dann, aber auch nur dann dürfen sie in Würde altern. Im Ergebnis freut sich der Kommerz (ohnehin der wichtigste Marker unseres Daseins), aber kulturelles Niveau wird sich immer weniger gegenüber Produkten für den Massengeschmack durchsetzen können. Wenn wir uns mit diesem Ziel zufriedengeben wollen …
Eine Gesellschaft misst sich daran, wie sie mit ihren schwächsten Gliedern umgeht. Wie vereinbare ich das mit dem Wissen über steigende Altersarmut, über Pflegeleistungen, die weder für die Betroffenen, noch die Angehörigen bezahlbar sind, über fehlende Pflegekräfte und über die Diskriminierung oder Demütigung alter Menschen. Kinder, Kranke, Behinderte, Geflüchtete haben eine (oft nur kleine) Lobby. Aber Alte? Das riecht nach „lohnt doch nicht mehr für die paar Jährchen“. Von einer Gleichberechtigung aller Menschen, von der Wiege bis zur Bahre, ist unsere Gesellschaft noch Lichtjahre entfernt!
Im Angesicht des demografischen Wandels sollten wir beginnen, den letzten Lebensabschnitt ernster zu nehmen und ihn aus der miefigen Grauzone ins Tageslicht zu zerren. Meine Zukunftsvision ist derzeit so dunkel, mir vorzustellen, dass Menschen nach ihrem letzten Arbeitstag eine Dankes-Email ihrer Regierung mit einem Code und einem Termin erhalten werden. Am genannten Tag müssen sich die Ausgemusterten an ihrem persönlichen Apothekenautomaten mittels Code ihre Ration „Rapid-Ex“ abholen. Sie haben anschließend fünf Tage Zeit zur Einnahme. Wird ihr Tod dann amtlich spätestens nach einer Woche bestätigt, erhalten die Hinterbliebenen eine einmalige Vergütung. Gibt es keine Angehörigen, fällt der Betrag zurück in die Staatskasse. Keine Renten- oder Pensionszahlungen, keine Belastungen für die Krankenkassen und die Allgemeinheit mehr. Nur noch junge, gesunde und dynamische Menschen, denen der Anblick auf Hinfälligkeit und der Ausblick auf das eigene Ende fortan erspart bleibt. Ich frage mich, warum die Wissenschaft immer noch so versessen darauf ist, unser Leben zu verlängern.
Ich wünsche der „jungen Seniorin“ aus der Anzeige jedenfalls viel Erfolg bei ihrer Wohnungssuche (hoffentlich hat sie keine alten Vermieter) und bedanke mich unbekannterweise für die thematische Anregung.
Ich bin mir der Einseitigkeit meines Beitrages bewusst, kenne etliche junggebliebene (ich hasse dieses Adjektiv!) Alte und kenne viele Redewendungen und Aphorismen bezüglich der Vorteile des Alterns und des Alters, hatte aber Lust, einmal die dunkle Seite zart anzustrahlen. Den, aus dieser novembergrauen Stimmung heraus geborenen, despektierlichen Titel möge man mir verzeihen. Auch wenn die Doppelbedeutung zwar erwünscht ist, so ist dennoch hier nicht ‚der Alte‘, sondern ‚das Alter‘ gemeint. 👵
